25.9.2019
Vorwort
Aus Fairness haben meine Geschwister eine Kopie meiner Memoiren erhalten und nichts gegen eine Verbreitung eingewendet.
KAPITEL 1
Zum besseren Verständnis beginnt diese Lebensgeschichte schon vor meiner Geburt, bereits im Jahr 1950. Damals erhielten die drei ältesten Kinder meines Grossvaters, Fritz Gottlieb Pfister, nämlich Fritz 35jährig, Ernst 34jährig und Hans 30jährig, mein späterer Pflegevater, von ihrem Papa nach Abzug der nicht bescheidenen Schenkungssteuer je 20 Millionen Franken überwiesen. Gemäss Statistik Schweiz - Der Teuerungsrechner sind dies auf heute gerechnet je 100 Millionen Franken. Alle drei leiblichen Söhne arbeiteten in der Firma Möbel Pfister AG. Mein Pflegevater hielt sofort Ausschau für Bauland und wurde in Unterentfelden fündig. Er soll für das Land von 3'500m2 kaum mehr als 5 Franken pro m2 bezahlt haben. Weitere Grundstücks- und Liegenschaftenkäufe in Hunzenschwil, Gränichen, Carona und Märstetten kamen hinzu. Sich in Punkto Schenkungen an seinem Vater orientierend, verfasste Papi im Dezember 1984 einen Brief an uns Kinder, Lisbeth, Peter und mich. Wir waren damals ebenfalls zwischen 35 und 30 Jahre alt: "(…) Es ist mein und Mamis Wunsch, dass jedes von Euch seinen Lebensunterhalt selber verdient. Was nach unserem Ableben, nach menschlichem Ermessen, dazu kommt, ist keine 'Farce' (…)". Dieser Ausdruck beruht auf einem Vorfall vom 1. Juni 1984. An diesem Tag waren Lisbeth, ihr Mann Heinz und ich in unser Elternhaus an den Höhenweg 3 nach Unterentfelden vorgeladen worden. Peter weilte studienhalber noch in Toronto. Herr Savoy, Papis Steuerberater, war ungewöhnlicherweise auch zugegen, also musste es sich um etwas anderes als ein Kaffeekränzchen handeln. Wir - ausser Mami - nahmen im Esszimmer Platz. Herr Savoy ergriff das Wort und leitete die Sitzung. Papi sass daneben und nickte ihm hin und wieder beipflichtend zu. Herr Savoy liess uns wissen, dass Papi nächsten Monat seine drei Mehrfamilienhäuser in Hunzenschwil mit total 34 Wohnungen zum Preis von 3'900'000 Franken in eine Aktiengesellschaft mit Namen Wega Immobilien AG und einem Aktienkapital von 200'000 Franken, entsprechend 200 Aktien à 1'000 Franken, überführen werde. Wir drei Kinder würden je zehn unverkäufliche Aktien geschenkt erhalten. In der Pause, als doch noch Kaffee und Kuchen aufgetischt wurden, sagte mir Heinz, die zehn Aktien seien eine Farce, man sollte Papi einen Brief schreiben. Mami telefonierte mir wenige Tage später und erwähnte, dass sie das mit der Farce gehört habe; es sei unanständig und habe Papi sehr geschmerzt und ihn in seinen guten Absichten verletzt. Es hatte für Heinz keine Konsequenzen. Das Wort Farce hätte ich niemals äussern dürfen, ohne gravierendste Folgen befürchten zu müssen. Papi hat in einem Brief vorgerechnet, wie man im Erbgang diese 200 Aktien auf uns drei Kinder aufteilt. Wieder zurück zum vorgenannten Lebensunterhalt: Ich bin ganz sicher, dass Papi es so gemeint hatte, wie es in seinem Brief stand, doch war ich der einzige von uns dreien, der sich daran hielt. Ein bisschen stolz bin ich schon darauf, dass ich nach dem betriebswirtschaftlichen Studium, das ich 1981 abschloss, nie wieder zu Papi hingetreten bin, um für Unterstützung nachzusuchen. Dies konnten meine Geschwister nicht für sich in Anspruch nehmen. Denn wie hätte sich Lisbeth mit dem kargen Lohn von Heinz, dessen frühzeitige Pensionierung im Alter von 56 Jahren (2002), ein Haus in Chardonne (gekauft 1987) und eines in Bever (gekauft 2004) leisten können, obwohl sie mit 23 Jahren, seit 1972, nicht mehr berufstätig war und mit ihrer lediglich der Selbstverwirklichung dienenden Töpferei noch nie wirklich Geld verdient hatte. Wie hätte Peter, als einzelner Chiropraktor mit zwei Teilzeitsekretärinnen ein ganzes Geschoss von mehr als 400m2 für seine Praxis in Wohlen kaufen und einrichten sowie ein Haus in der Schweiz, in Kanada ein Blockhaus, ein Airboat und sicher noch einiges mehr kaufen können? Ebenfalls aufgekommen ist Papi für das Elite-Internat (Klosterstift Engelberg) von Peters Sohn Kevin. Der arme Herr Doktor lebte schon immer über seine Verhältnisse, wie mir Papi öfters klagte. Wäre ich in der Situation von Peter gewesen, hätte mir Papi genau vorgerechnet, wie viele Quadratmeter eine Praxis beanspruchen dürfe, wäre sicherlich auf keine 100m2 gekommen und hätte ganz bestimmt nichts Grösseres finanziert. Mami wollte und Papi musste Peter auch weiterhin finanziell unterstützen, weil die Praxis für seinen verschwenderischen Lebensunterhalt nicht genug Gewinn abwarf und er sein Arbeitspensum ab Herbst 2003 auf vier Wochentage reduzierte. Für den gelben Rabbit, den er 1983 in Kanada kaufte, Sabine getauft hat, in die Schweiz überführte und noch heute fährt, sowie seine weiteren drei Autos gab er Unsummen aus. Für Anschaffungen, Ersatzteile, Unterhalt, aufwendige Reparaturen, Versicherungen und Steuern soll er in 30 Jahren über eine Million Franken ausgegeben haben, wie Papi zu Lisbeth gesagt hat. Peters Freundin, Elisabeth Müller-Odersky, ebenfalls wohnhaft in Unterentfelden, liess sich von ihm eine neue, luxuriöse Küche schenken und wurde für unsere Eltern zur Persona non grata, weil Papi indirekt auch für diese Investition aufkommen musste.
KAPITEL 2
Ich war vier Jahre alt und spielte zusammen mit einigen Heimkindern mit rotem Blechgeschirr, das weiss getupft war. Schwester Heidi führte ein Ehepaar in den grossen Raum. Aus irgendwelchen Gründen liess ich von den Spielsachen ab und rannte auf den wohlbeleibten Herrn mit der sanften, einnehmenden Stimme und der warmen Ausstrahlung zu und umklammerte sein Bein. Bei dem Ehepaar handelte es sich um Hans und Margrit Pfister-Boltshauser. Und damit begann mein Leben im Hause Möbel Pfister.
Meine Pflegeeltern werden sich gedacht haben, ich hätte grosses Glück gehabt, bei ihnen aufwachsen zu dürfen. Doch wenn man jahrzehntelang meist abgelehnt und nicht gemocht wird, hat dies wenig mit Glück zu tun. Papi hat mir schon als Primarschüler – und auch noch später wiederholt – gesagt (und auch geschrieben), dass ich als Waisenkind auch in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie hätte aufwachsen können und dort gelernt hätte, jeden Franken zweimal umzudrehen, bevor ich ihn ausgebe. Dies solle ich nie vergessen. Und er liess es mich die nächsten Jahrzehnte auch deutlich spüren. Das waren die Grundklänge, die mich vermeintlichen Glückspilz durchs Leben begleiten sollten. Papi und Mami haben Lisbeth und Peter sichtbar und ohne Reue bevorzugt. Ich bekam nie, auch nur annähernd, Geschenke in der Menge, Qualität und Preisklasse von Lisbeth und Peter. Heute muss ich konstatieren: Ich wäre gerne in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie aufgewachsen, z.B. bei meiner Gotte Alice Wüthrich (der Schwester von Mami) in Dotnacht oder meinem Götti Hans-Heinrich Boltshauser (dem Bruder von Mami) in Ottoberg. Ich wäre der Liebe, Zuneigung, Anteilnahme und Fürsorge sicher gewesen. Und für einen Staubsauger zur Hochzeit hätte es ganz bestimmt auch gereicht.
In den Jahren 2016 und 2017 habe ich intensive Nachforschungen über meine Herkunft betrieben. Ausgerechnet bei der Heilsarmee waren keine Akten auffindbar betreffend die für mich so wichtigen ersten vier Lebensjahre im Kinderheim. Gerade diese Unterlagen würden mich sehr interessieren. Über meine leiblichen Eltern wusste ich nur das, was auf der Geburtsurkunde stand. Meine Pflegeeltern hatten mir immer gesagt, ich käme aus einem Waisenhaus. Also ging ich davon aus, dass meine leiblichen Eltern nicht mehr lebten. Dies entsprach jedoch keineswegs den Tatsachen. Meine Pflegeeltern kannten die näheren Umstände genau und wussten, dass ich kein Waise war. Was hatte sie veranlasst, mir stets die Unwahrheit zu sagen? Lisbeth und Peter kannten die Wahrheit über meine Abstammung, und sie wussten offenbar genug, um daran interessiert zu sein, möglichst nichts zu wissen. Wenn ich als wissensdurstiger, neugieriger Junge oder auch noch als erwachsener Mann von 50 und mehr Jahren Mami Fragen stellte, gab sie mir oft die Antwort: "Das muss dich nicht interessieren." Oder auch in verschärfter Form: "Das hat dich nicht zu interessieren." Also stellte ich immer weniger Fragen, weil ehrliche, schlüssige Antworten nicht zu erwarten waren. Papi etwas zu fragen, traute ich mich meistens nicht.
Am 11. Januar 2017 waren meine Frau und ich bei der Kesb (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) in Zürich zur Akteneinsicht und fotokopierten Unterlagen. Wir waren nicht wenig erstaunt, was uns die sehr freundliche und ebenso hilfsbereite Frau Gottschall darzulegen wusste. Meine leibliche Mutter (Lola Barzagli, 1927-2000) war eine eingereiste italienische Prostituierte. Sie hatte von acht verschiedenen Männern acht uneheliche Kinder mit Jahrgang zwischen 1948 und 1961 zur Welt gebracht. Ich war ihr drittes Kind. In einem Bericht des Erkundigungsdienstes des Wohlfahrtsamtes vom 20. März 1955 wurde sie als "eine sorglose, gleichgültige, liederliche, ausserordentlich schlampige, faule, vorbestrafte, mannstolle, nichtsnutzige, leicht-veranlagte und unordentliche Person" geschildert, welche sich "auch Unehrlichkeiten zuschulden kommen liess". So musste die Bezirksanwaltschaft Zürich im Jahre 1957 wegen Diebstahls und 1958 wegen Betrugs eingeschaltet werden. Wie freudig verlaufen für eine Prostituierte solche umsatzschädigenden Schwangerschaften? Was erlebt ein noch Ungeborenes unter diesen Gegebenheiten im Leib der Mutter? Was habe ich Prägendes mitbekommen? Ich hatte nie Angst vor der Dunkelheit oder vor der Nacht, aber ich habe bis zum heutigen Tag Angst vor der Vorstellung, nicht einschlafen zu können, und ich weiss nicht, woher dies rührt. Alle Kinder meiner leiblichen Mutter kamen sofort in ein Kinderheim der Heilsarmee. Wie mir Lisbeth berichtete, soll ich stets äusserst freudvoll über die Zeit im Heim erzählt haben. Doch ein Sprichwort beschwört: "Die beste Amme ersetzt keine Mutter." Ich glaube in einem Buch der Ärztin Maria Montessori gelesen zu haben, dass die erste Sekunde, die erste Minute, die erste Stunde, die erste Woche, der erste Monat, das erste Jahr eines Kindes von besonderer Wichtigkeit für die zukünftige Entwicklung sei. Andernorts las ich, mit drei Jahren sei ein Kind "gemacht", mit Konsequenzen für die Zukunft. Über diesen Schatten könne das Kind nicht mehr springen. Die ersten vier so wichtigen Jahre meines Lebens in einem Heim ohne Mami und Papi – eine erschreckend lange Zeit! Diese Tatsache beschäftigt mich zutiefst und macht mir zu schaffen. Nichts gegen das Heim, aber der Umstand, dass mich während vier Jahren niemand bei sich aufnehmen wollte, belastet doch sehr. Und dies, obwohl im Rechenschaftsbericht von Amtsvormund Dr. Carl Schlatter vom 30. September 1957 geschrieben steht: "Der kleine Schutzbefohlene hat sich im Kinderheim der Heilsarmee, Neumünsterallee 17, Zürich 8, zu einem gesunden, kräftigen, gut gearteten Knaben entwickelt. (…) Die Heimleiterin schildert ihn als einen lieben und anhänglichen Pflegling." Wie viele potentielle Eltern waren wohl ins Heim gekommen und hatten sich gegen mich entschieden? Ab irgendeinem Alter bekommt das ein Kind doch mit. Immer wieder verlor ich eine Spielkameradin, einen Spielkameraden, die aufgenommen wurden. Es muss während der Jahre im Heim zu etlichen Verabschiedungen gekommen sein, ich aber blieb zurück. Abschied nehmen ist immer ein kleines Sterben. Im Gegensatz zu Lisbeth und Peter bin ich kein Wunschkind, sondern der dritte von acht Unfällen. Aus dem Brief vom 31. Mai 1955 des Fürsorgeamtes der Stadt Zürich an das Gemeindedepartement des Kantons Luzern zitiere ich: "Der Kindsvater wie übrigens auch die Kindsmutter kümmern sich in keiner Weise um den Sohn. Beide Eltern bezahlen nichts an das monatliche Kostgeld von Fr. 120 und besuchen auch das Kind nie. Unsere div. Zitationen liessen sie unbeachtet." Meine Mutter sollte nach der Geburt ihres achten Kindes aus der Schweiz ausgewiesen werden, heiratete jedoch den Erzeuger dieses Kindes, einen Schweizer, und erlangte das Schweizer Bürgerrecht. Sie starb im Alter von 73 Jahren und ist in Greifensee beerdigt. Mein leiblicher Vater (Fridolin Adolf Roos, 1930-1977), Hilfsarbeiter und Alkoholiker, wird in den Unterlagen des Staatsarchivs Luzern als "wenig arbeitswillig, unzuverlässig mit miserablem Charakter" geschildert und starb mit 47 Jahren. Auch bei ihm häuften sich die Betreibungen.
KAPITEL 3
Der Grund für meine Aufnahme als Pflegekind in die Familie Pfister war, dass Mami nach zwei Kaiserschnitt-Geburten in den Jahren 1949 und 1951 auf den Rat der Ärzte keine weiteren Kinder gebären sollte. Unser Haus verfügte über vier Kinderzimmer. Für die beiden Kinder, die schon auf der Welt waren, war jedoch ein Geschwisterchen gewünscht. Also wurde zuerst für Lisbeth ein Schwesterchen aus dem Kinderheim aufgenommen. Man wird wohl dem kleinen schuldlosen Wesen gesagt haben, dass es nun ein Mami und einen Papi und zwei Geschwister mit Namen Lisbeth und Peter habe. Das Mädchen hat sich hierüber sicherlich sehr gefreut – wie ich einige Zeit später auch. Leider ging es nicht gut - nähere Umstände wurden mir nie mitgeteilt -, und das Lisbeth zugedachte Schwesterchen wurde ihr weggenommen und wieder ins Heim zurückgebracht. Unsere Eltern haben sich vermutlich nie überlegt, was sie dem Kind angetan haben und sich nicht gefragt, wie es im Herzen und im Kopf des vom Schicksal weggeschmissenen Kindes ausgesehen haben mag. Oder haben ihre stets hochgelobten Menschenkenntnisse versagt, so wie sie auch bei mir versagen sollten? Für ein Kind aus einem Heim ist einiges mehr an Nachsicht und Verantwortung vonnöten als bei einem leiblichen. Jedes Heimkind hat eine meist unschöne Vorgeschichte und benötigt deshalb eine zusätzliche Portion Rücksicht und Verständnis. Papi hatte Erfahrung mit angenommenen Kindern, da von seinen fünf Geschwistern deren drei (Susy, Heidy und Jürg) adoptiert worden waren. "Beziehungen zwischen Menschen sind das Anspruchsvollste überhaupt. Das gilt in ganz besonderem Mass für Beziehungen zwischen Kindern und deren Pflegeeltern." (Kanton St. Gallen, Amt für Soziales, Juli 2013) Peter wünschte sich so sehr und dringend ein Brüderchen. Und was Peter, der heissgeliebte Sohn begehrte, das bekam er meist auch. Das hiess für seine Eltern, dem Kinderheim wiederum einen Besuch abzustatten. Ich wurde für Peter auserkoren und merkte sofort, dass er Gefallen an mir fand, und war während rund vierzig Jahren vermutlich sein bester Freund. Mami konnte es jedoch nie verwinden, dass sie sich mit einem Ersatzkind begnügen sollte und liess mich ihre Enttäuschung immer spüren. Ich war eben nur ein Pflegekind, das Peter sich gewünscht hatte. Man musste mich zwar pflegen, aber natürlich nicht lieben. Ich war schliesslich kein eigenes, leibliches Kind. Nie hatte ich eine Chance gehabt, von ihr Liebe zu empfangen. Mami hat mich, den Fremdkörper im Haus, kaum gemocht, geschweige denn mehr. Sie konnte es schlichtweg nicht. So kam es, dass ich eines Tages zufälligerweise mit anhören musste, wie Papi mit dem Kinderheim telefonierte und mich dorthin zurückgeben wollte. Vor Schreck und Schmerz rannte ich weinend zu Mami, die sich im Esszimmer mit einer Angestellten unterhielt, und durfte gnädigerweise bleiben. Mami wollte noch einmal mit viel Mühe und Anstrengung versuchen, ihrem Herzen einen Stoss zu geben und über ihren Schatten zu springen, um mich, als ihr nicht leibliches Kind, annähernd gleich wie Lisbeth und Peter zu behandeln. Doch es gelang ihr nicht, ein fremdes Kind gern zu haben, und es dauerte nicht lange, bis ich in der Küche urplötzlich von meinem geliebten Mami die deutlichen, unmissverständlichen, unvergesslichen und herzlosen Worte erstmals – und in den nächsten zehn Jahren wiederholt – zu hören bekam: "Ich kann nicht glücklich sein, solange du in diesem Haus wohnst." Meine Eltern haben sich immer wieder gebrüstet, sie hätten hervorragende Menschenkenntnisse. Von Empathie haben sie anscheinend aber noch nie etwas gehört. Wenn man als Heimkind solche Worte im neuen Zuhause hören muss, ist die Zukunft vorprogrammiert. Wer einem schutzbedürftigen Kind von vier Jahren so etwas sagt, ist noch zu ganz anderem fähig – und so sollte es auch kommen. Mami sah in mir, dem neuen Wesen im Haus, den ruchlosen Zerstörer ihres Glücks. Dies war der Beginn des Ausschlusses. Er wurde von nun an systematisiert. Liebe, wonach ich viele Jahre gierte, wurde mir nie zuteil – und ich musste mich damit abfinden. Ich kann mich genau erinnern, dass meine Hände den Rand der Abwaschkombination umklammerten, weil mir schwindelig wurde ob der gehörten Worte meiner Mami. Ich schaute zu ihr hoch und konnte einfach nicht glauben, was ich soeben mit klaren Worten vernommen hatte. Ich war untröstlich, denn ich wollte doch, dass meine Mami glücklich ist, ich war es doch auch. Was hatte ich bloss falsch gemacht, dass Mami nicht glücklich sein konnte? Ein Kind sucht die Fehler immer bei sich selbst. Ich lief mit zerrissenem Herzen aufs Zimmer und blieb dort für zwei Tage, schwamm in Tränen. Eine Bedienstete brachte mir das Essen, doch daran war nicht zu denken. Als Mami diesen verhängnisvollen Satz später immer wieder aussprach, besuchte ich Lisbeth wiederholt in ihrem Zimmer, nachdem sie aus der Schule gekommen war. Ich zitierte Mamis Worte, die mich masslos enttäuschten, ungemein schmerzten und mich verängstigten. Muss ich doch wieder ins Heim, weg von Mami, Papi, Lisbeth und Peter? Nie erlebte ich eine Reaktion von meiner Schwester, nie hat sie mich in die Arme genommen, mich getröstet, die Aussage von Mami relativiert oder mir die Hintergründe zu erklären versucht. Als wollte sie sagen: So ist es nun mal. Da war Lisbeth, die mich jahrzehntelang wirklich lieb gehabt hat (viele ihrer Briefe endeten mit "Deine Elisabeth"), möglicherweise die falsche Ansprechperson. Vielleicht konnte sie es auch nie verkraften, dass die Eltern ihr das zugedachte Schwesterchen wieder weggenommen hatten. Papi doppelte einige Jahre später mehrmals nach: "Wer nicht geliebt wird, wird nie lieben können." Damit gestand er ein, dass ich niemals geliebt wurde. Ich habe über diese Aussage mit Lisbeth immer wieder gesprochen, weil dieser Satz mir jeweils sehr weh tat. Als Papis Liebling war es für sie natürlich nicht einfach, sich gegen ihn auszusprechen.
Als ich das Heim verliess, war ich kein Bettnässer mehr, wurde es aber wieder für etwa zwei Jahre. Mami hat immer mit mir geschimpft, wenn das Laken wieder nass war. Bettnässen ist vor allem eine Reaktion auf Druck, also etwas, das Mami, obwohl sie gelernte Kinderpflegerin war, leider nicht zu handhaben wusste. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern hat sich Mami nie zu mir ans Bett gesetzt, weder gesungen noch gebetet. Den Gute-Nacht-Kuss erhielten die anderen. Sie öffnete meine Zimmertür, wünschte mir eine gute Nacht, löschte das Licht und schloss sie wieder. Peters Zimmer lag neben meinem, und ich hörte, wie Mami ihm Geschichten vorlas, mit ihm sang und betete. Ich habe jeweils mit gefalteten Händen mitgesungen. Peter hatte stets mehrere Teddybären die er entlang seines Bettes an der Wand hinsetzte. Ich beneidete ihn sehr, denn ich hatte keinen und er hat mir auch nie einen ausgelehnt.
Für Lisbeth und Peter war es nicht unüblich, dass sie sonntags zu den Eltern ins Bett steigen durften. Wenn ich meine Geschwister kichernd an meinem Zimmer vorbeihuschen hörte, wusste ich, es war wieder zu spät für mich. Ich stand auf, tappte Unheil vorausahnend zur Tür des Schlafzimmers unserer Eltern, doch diese war bereits abgeschlossen. Traurig und mit gesenktem Kopf trottete ich zurück in mein Zimmer, hatte den Kampf um die Gunst der Eltern einmal mehr verloren. Die ersten paarmal klopfte ich an die Tür und bat, dass ich auch mit ins Bett kommen dürfe. Schon erklang Mamis Stimme, dass es keinen Platz für mich habe. Wäre ich Mamis drittes leibliches Kind gewesen, hätte es bestimmt noch Raum für mich im übergrossen Doppelbett mit zwei Matratzen gehabt. Ich will meinen Geschwistern keinen Vorwurf machen, für sie war es ein Spiel. Für mich jedoch waren Mamis Worte vernichtend und die Fortsetzung des familiären Ausschlusses. Ich muss mich korrigieren: Man kann ja nur ausschliessen, wen man irgendwann zuvor einmal eingeschlossen hatte. Dies war bei mir nie der Fall, wie ich die folgenden 50 Jahre immer wieder bitterlich feststellen musste. Als Lisbeth in die Vorpubertät kam und keinen Gefallen mehr am sonntäglichen Schlafzimmerbesuch bei den Eltern fand, galt es für Peter und mich, in unserem Zimmer zu bleiben und uns selbst zu beschäftigen, bis wir Geräusche im Hause hörten und ins Erdgeschoss gehen durften. Zur Erinnerung: Die Altersdifferenz zu Lisbeth beträgt fünf Jahre. Als sie nicht mehr wollte, wäre ich noch gerne unter die Decke der Eltern geschlüpft, denn bezüglich Zuneigung und Wärme hatte ich ein grosses Defizit. Trotzdem liebte ich meine Eltern, denn es gab eine Frau und einen Mann, denen ich Mami und Papi sagen durfte. Im Heim hatte es dies nicht gegeben.
Etwa fünfjährig wollte ich mit einem Bambusrohr ein Blatt aus dem Gartenschwimmbad fischen und fiel dabei ins Wasser. Mami lag sonnenbadend in einem bequemen Liegestuhl auf der grossen Terrasse vor dem Elternschlafzimmer über dem Wohnzimmer und hörte mich ins Wasser plumpsen. Ich konnte nicht um Hilfe schreien, weil ich mit Kleidern und Schuhen unter Wasser war. Doch sie hatte meinen Reinfall gehört und rannte durchs Schlafzimmer die Treppe hinunter, vorbei am hinteren und vorderen Hauseingang, durch ihr Arbeitszimmer auf den Gartensitzplatz und von dort quer über die Wiese zum Pool. Ich konnte sie nun sehen. Sie packte meine nach oben gestreckte Hand und zog mich raus. Anstatt mich in die Arme zu nehmen und glücklich über die Rettung zu sein, schrie sie mich an und versohlte mir den Hosenboden.
Wenn wir auswärts essen gingen, was nicht selten vorkam und allen grosse Freude bereitete, besuchten wir die besten vier Restaurants in der Nähe unseres Wohnortes, das Bad in Oberentfelden, das Chez Jeannette in Aarau, den Hirschen in Erlinsbach (AG) oder das Chalet auf der Saalhöhe bei Kienberg. Entweder im Restaurant oder spätestens im Auto auf der Heimfahrt wandte sich Mami mir zu und fragte: "Wie sagt man?" Und ich bedankte mich bei Papi für das feine Essen. Lisbeth und Peter kannten diese Pflicht nicht. Bald hatte ich mir angewöhnt, noch bei Tisch, gleich nach dem Dessert, Papi für die Einladung meinen Dank zu bekunden.
Fluchte oder gebrauchte ich ein schmutziges oder gar böses Wort, wie es auch meine Geschwister, allen voran mein Bruder, taten, so hat mir – und nur mir – Mami die Zunge mit Seife gewaschen. Der einzige Moment, wo wir uns nahe kamen. Wenn meine Geschwister nicht zugegen waren, kam es auch vor, dass mein Kopf ins Lavabowasser gedrückt wurde.
KAPITEL 4
Unser Grossvater, Fritz Gottlieb Pfister, den wir Opapa nannten, hatte ab den 1950er Jahren einen Abschnitt der Donau gepachtet und mehrmals jährlich eine Woche dort geangelt und mit Netzen gefischt. Die Fische hat er in zwei grossen Behältnissen eines umgebauten Lieferwagens seiner Firma Möbel Pfister eingesammelt und auf verschiedene Brunnen der Umgebung verteilt. Es soll dann geheissen haben: "Der Pfister war hier, es hat wieder Fische". Zum Verzehr und für den grossen, runden, idyllisch gelegenen Teich bei sich zu Hause in Erlenbach (ZH) blieben immer mehr als nur einige Exemplare übrig. Peter und ich hatten einen Riesenspass, um dieses Becken herum zu laufen, die zum Teil beeindruckend grossen Fische zu bewundern und ihnen Brotkrumen zuzuwerfen.
1959 war ein Jahr mit Folgen. Fritz, Ernst und Papi waren zur Donau gereist. Als Delegierter seiner Brüder war Fritz vor Opapa hingetreten und hatte das Ansinnen der drei vorgetragen. Es ging darum, dass Opapa ihnen mehr Kompetenz einräumen und sich mit nun 68 Jahren aus der Firma zurückziehen sollte. Für den Fall seines Einverständnisses wären sie alle zugegen gewesen und hätten das weitere Vorgehen vor Ort besprechen und schriftlich festhalten können. Doch Opapa teilte ihre Meinung nicht, explodierte und wollte von Fritz wissen, ob dieser Vorschlag auch der Meinung von Ernst und Hans entspräche. Fritz bejahte, und mein Grossvater, der nicht wusste, dass sich die beiden Brüder in einem Nebenraum befanden, zitierte Ernst und Papi im Anschluss an seine Rückkehr zu sich nach Erlenbach und wollte auch von ihnen die Frage beantwortet wissen. Die beiden kuschten bzw. logen und sagten, sie hätten nichts von diesem Vorschlag gewusst und wären nie und nimmer damit einverstanden gewesen. Die Konsequenz war, dass Fritz per sofort sein Büro bei Möbel Pfister räumen musste und aus dem Geschäft ausgeschlossen wurde. Opapa hat nie mehr mit ihm gesprochen; sie haben sich auch nie wieder gesehen. Fritz hat den Kontakt zu seinen feigen Brüdern vollumfänglich abgebrochen. Ernst machte der Betrug am ältesten Bruder mehr und mehr zu schaffen. Er konnte die gemeinsame schändliche Tat nicht vergessen und litt seither darunter. Ihm gingen das unwürdige Verhalten, der Abgang von Fritz aus der Firma und der Kontaktabbruch dermassen an die Nieren, dass er immer depressiver wurde und sich schliesslich einige Jahre später an einem 23. Dezember vor ein Auto warf und sofort tot war. Mir wurde wider besseres Wissen während 50 Jahren stets vorgelogen, Fritz sei ein bekennender Kommunist geworden und habe sich von der Familie abgewandt. Am 28. April 2016 schrieb ich Lisbeth: "Den Onkel Fritz habe ich nie kennengelernt. Er war vermutlich der älteste Bruder von Papi. Kannst du mir schreiben, weshalb Papi keinen Kontakt zu ihm pflegte?" Ich wollte Lisbeth letztmals die Gelegenheit geben, mir endlich, fast zweieinhalb Jahre nach Papis Tod, die Wahrheit mitzuteilen. Nach zehn Wochen kam die Antwort, aber nicht von ihr, sondern von ihrem Anwalt mit den Worten: "Nach Rücksprache mit meiner Klientin kann ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Schreiben vom 28. April 2016 nicht beantwortet wird. Meine Klientin hat Ihnen bereits früher mehrfach erklärt, dass sie nicht mehr gewillt ist, als Anlaufstelle für Ihre Fragen zu dienen. Ich bitte Sie höflich, dies zu respektieren."
KAPITEL 5
Onkel Bert war ein unechter Onkel, den wir Kinder einfach so nennen durften. Dieser Onkel Bert, Vogler mit Nachnamen, war ein pensionierter Trickfilmzeichner und ein in der Familie und Verwandtschaft bekannter Pädophiler. Trotzdem wurde er nicht beaufsichtigt und durfte sich in meinem Zimmer allein mit mir aufhalten. Er wurde in der Familie Pfister herumgereicht und war etwa drei Mal für zwei Wochen bei uns. Einmal hatte er den Auftrag, die Wände unseres übergrossen Spielzimmers im Keller mit phantasievollen Sujets zu bemalen und uns Kinder darin mit lustigen Texten in Sprechblasen erscheinen zu lassen. Eine wirklich unikal gelungene Arbeit. Er war ein netter Mann mit sympathischer Stimme, roch stets stark nach after shave und rauchte die flachgepressten Blue-Ribbon-Zigaretten in der aussergewöhnlichen Kartonfaltschachtel. Er mochte mich sehr, war nett zu mir, berührte mich oft streichelnd und drückte mich an sich, auch in Gegenwart meiner Eltern. Onkel Bert schenkte mir Schokolade – nur mir –, gab sich intensiv mit mir ab – nur mit mir – und liess Lisbeth und Peter unbeachtet. Zustände, wie ich sie in diesem Hause nie erlebt hatte. Onkel Bert besuchte mich nachmittags gelegentlich in meinem Zimmer. Ich war vermutlich sechs Jahre alt, als es zum ersten sexuellen Übergriff kam und er mir das Versprechen abnahm, mit niemandem hierüber zu reden, ansonsten ich wieder in ein Heim müsse. Er sass jeweils auf meinem Bett, ich stand auf dem Bettrand, zwischen seinen Beinen. Er öffnete meine Hose, zog diese und meine Unterhose nach unten, nahm meinen kleinen Penis in den Mund und steckte einen Finger bei mir hinten rein. Dann passierte es. Plötzlich bemerkte ich, dass er seinen Kopf abrupt zurückzog und erschrocken zur Tür schaute. Ich drehte meinen Kopf nicht sofort dorthin, sondern zog diesen zwischen meine Schultern ein, weil ich ein ungutes Gefühl und stets grosse Angst hatte, wenn Gefahr von hinten drohte, wurde ich doch oft geschlagen und ich vermutete eine gescheuert zu erhalten. Verzögert sah ich doch zur Tür und erblickte Mami bei gut 20 cm geöffneter Tür. Sie schaute nicht mehr zu uns hin, sondern zu Boden. Sie verharrte einen längeren Moment, wie wenn sie sich - aus heutiger Sicht - überlegen würde: Muss ich das gesehen haben? Muss ich einschreiten? Dann hätte sie aber eingestehen müssen, dies mitangesehen zu haben. Was wären die Konsequenzen? Wie muss ich mich gegenüber dem Pflegekind Fritz verhalten? Wie muss ich mich gegenüber Hans, Lisbeth und Peter verhalten? Sie wusste keine Antwort und schloss behutsam die Tür. Mami entschied, dass sie nichts gesehen haben wollte. Ich dachte, es sei normal, was Onkel Bert mit mir machte, er hatte mich doch lieb. Und ansonsten hätte Mami doch etwas gesagt. Ich verstand nun aber seine Drohung mit dem Heim nicht mehr. Sein sexueller Missbrauch hat mein Schamgefühl in keinster Weise verletzt. Unter einem Vorwand gab's für mich ein frühes Nachtessen, dann musste ich aufs Zimmer gehen. Ich habe Onkel Bert nie wieder gesehen.
KAPITEL 6
1963 verbrachten wir die Sommerferien in Holland. Wir besichtigten die Städte Amsterdam, Den Haag und Rotterdam. Woran ich mich eindrücklich erinnern kann, war die Zeit am Strand, wo es in Dreieckstüten Pommes-Frites mit Mayonnaise in Hülle und Fülle gab – und natürlich auch viel Eiscreme. Lisbeth und Peter durften sich in einem Strandgeschäft zwei Drachen aussuchen und steigen lassen. Aus irgendeinem Grund – oder auch ohne – erhielt ich keinen Drachen von Mami. Die Urlaubsfreude war dahin, und ich musste mit anderen Kindern auf den Bau von Sandburgen ausweichen. Eigene Kunststoffeimer, Förmchen und Schaufel bekam ich hierfür von meinen Eltern nicht und war darauf angewiesen, dass die Kinder mich mit den ihrigen mitspielen liessen. Alle waren jünger als ich und betrachteten mich als ungebetenen Eindringling. Verständlich stiess ich bei diesen auf Antipathie und kam freudlos der von Mami befohlenen Beschäftigung nach.
Öfters reisten unsere Eltern alleine in die Ferien. Kamen sie zurück, so warteten wir Kinder ungeduldig im Entrée des Hauses, um die Geschenke in Empfang zu nehmen. Lisbeth und Peter wurden von Mami und Papi jeweils geherzt und geküsst. Mir wurde der Kopf gestreichelt so wie auch Lia - unserer Hündin. Man liebt seine Eltern nicht nur, weil sie einem Gutes tun, aber doch auch deswegen. Dieser Grund wurde mir genommen bzw. nie gegeben. Ich litt unbeschreiblich unter der distanzierten Haltung der beiden. Einmal kamen sie aus dem Urlaub zurück und hatten wieder Geschenke für uns Kinder mit dabei. Peter erhielt in einer braunen Box beschriftet mit goldigen Lettern einen wirklich schönen, ledernen und ebenso duftenden Gürtel. Ich in einer schlichten Einkaufstüte einen aus Kunststoff. Ich liess einen enttäuschten Kommentar fallen, worauf Mami mich sofort mit äusserstem Nachdruck als undankbar beschimpfte und sich beeilte, hinzuzufügen: "Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul." Bei der nächsten Ferienrückkunft erhielten Lisbeth und Peter wiederum ihre Geschenke. Ich erkundigte mich nach meinem, und Mami erklärte mir eindringlich, weil ich mich letztes Mal sehr negativ über mein Geschenk geäussert hätte, würde ich dieses Mal leer ausgehen. Ich war traurig und liess den Kopf hängen. Papi sagte, ich solle aufs Zimmer gehen, notabene ohne Znacht. Dort hörte ich Gelächter von unten. Papi hat wohl witzige Erlebnisse zum Besten gegeben.
Samstag war für Peter und mich Badetag. Peter stieg immer als erster in die Wanne - in Badehosen. Ich war der vom Heim her gewohnte Nackedei unter Gleichen. Nach Peter durfte ich in sein nicht mehr so warmes und nicht mehr so sauberes Wasser. Auf meine Frage, ob wir nicht mal abwechseln könnten, bekam er sogleich einen Wutanfall. Mami musste ihn besänftigten und erklärte, dass dies ganz bestimmt nie stattfinden würde. Wenn Peter aus der Badewanne kam, je nach Tageslaune etwas früher oder später, was sich auf die Wassertemperatur auswirkte, trocknete er sich ab, rannte in sein Zimmer, tauschte die Bade- gegen Unterhosen und kam zurück, um sich von Mami an den Monsterbusen drücken und die Ohren mit dem Wattestäbchen reinigen zu lassen. So nahe durfte ich Mami nie kommen. Ich war während der Zeit von Peters Abtrocknen, Umziehen und Ohrenreinigung im Wasser – dieses war mittlerweile lauwarm oder weniger geworden. Heisses Wasser einlaufen zu lassen, war mir verboten. Nach dem Baden musste ich hinstehen und meinen Kopf seitlich neigen, während Mami auf einem Hocker sass und sich meinem Ohrenprozedere widmete.
Vor dem Nikolaus hatte ich immer eine grosse, geradezu panische Angst. Der kräftig gebaute Mann erschien mir wie ein Riese. Stets war ich darauf bedacht, fehlerlos ein Verslein vortragen zu können – aus Ehrgeiz jedes Jahr ein neues und längeres. Wieder wurde ich von dem Hünen aufgerufen und musste vortreten. Es ging gut, bis Papi einen Kommentar fallen liess und ich den Faden verlor. Barsch befahl er mir, ins Esszimmer zu gehen, auf meinem Stuhl Platz zu nehmen und zu warten. Von dort sah ich nicht ins Wohnzimmer, wo Lisbeth und Peter ihre Gedichte aufsagten. Ich hörte jedoch, dass der Samichlaus die beiden lobte, und der Inhalt seines grossen Gabensacks wurde auf Anweisung von Mami zwischen den beiden aufgeteilt. Nichts für mich. Enttäuscht, aber ahnungslos verharrte ich im Esszimmer. Papi kam auf mich zugeschritten und befahl mir, in den soeben geleerten schwarzen Sack zu steigen; ich müsse nun für ein Jahr in den Schwarzwald gehen und Ruten binden. Ich hatte schon viel Beängstigendes über den Schwarzwald gehört und wusste, nun müsste ich sterben. Es verging eine Unendlichkeit. Papi redete mit dem furchteinflössenden Mann im Wohnzimmer. Ich verstand kein Wort, das Herz pochte bis hinauf in meinen Ohren. Schliesslich nahm der Samichlaus den Sack mit mir drin auf seine breiten Schultern und verliess unser Haus. Auf der Strasse stellte er den Sack auf den Schnee und sagte mit seiner tiefen Stimme, ich könne wieder nach Hause. Wie von Raubtieren gejagt, raste ich auf die hintere Hauseingangstür zu, doch die war verschlossen, und es brannte kein Licht im Entrée. Nun starb ich zum zweiten Mal an diesem Abend. Ich befürchtete, nicht hineingelassen zu werden. Eine gefühlte Ewigkeit verharrte ich vor der Tür und hatte keinen Mut, mich nach dem Befreier umzudrehen, denn ich vermutete, er stünde gleich hinter mir und würde mich doch noch mitnehmen. Dann gab's Licht, Papi kam, drehte am Hausschlüssel und liess mich rein. Wohin sollte ich nun gehen und Schutz und Trost suchen? Sicher nicht zu dem bösen Papi! Zu Mami? Mitnichten! Also rauf ins Zimmer. Niemand kam mich beruhigen. Noch nach Stunden sass die Angst in meinen Gliedern und liess mich nicht einschlafen. Die Vorbereitungen in den Folgejahren waren von unbeschreiblicher Furcht geprägt. Übrigens kann ich mich nicht erinnern, jemals einen Adventskalender erhalten zu haben. Wenn ich mich irre, muss es sich um einen sehr bescheidenen gehandelt haben der nicht in Erinnerung haften blieb, weiss aber sehr wohl während Jahren in den Zimmern von Lisbeth und Peter welche gesehen zu haben. Sie waren enorm gross, etwa 80x80 cm, ich habe nie grössere gesehen und vermute, dass Papi diese im Geschäft fabrizieren liess. Die Kalender hatten auch eine imponierende Tiefe und da hatte es hinter jedem Türchen Platz für allerlei.
Je mehr ich die Ablehnung Mamis spürte, desto stärker fühlte ich mich zu Lisbeth und Peter hingezogen und war ihnen jahrzehntelang jeweils das Lieblingsgeschwister. Mami liess Papi emotional nicht an mich heran. Sie stellte sich wie eine unüberwindbare Mauer zwischen uns. Sie erschwerte jegliche Annäherung zwischen mir und dem mir eher gesonnenen Vater in wirklich herztötender Weise.
KAPITEL 7
In jungen Jahren wollte ich nicht mit den Eltern und Geschwistern in die USA oder nach Kanada in die Ferien fliegen, sondern zog einen Aufenthalt bei Gotte oder Götti auf deren Bauernhof vor. In späteren Jahren, als ich Gefallen am Verreisen gefunden hatte, wurde ich nicht mehr gefragt, ob ich mal über den grossen Teich mitkommen möchte. Ich wäre gerne mitgegangen, doch der Fall war klar: Mami hatte anders entschieden. Hierüber wurde nicht geredet, es war beschlossene Sache. Mami hatte bereits nach einem Ferienplatz für mich Ausschau gehalten. Gemäss meinem Tagebuch war ich z.B. vom 6. Juli bis 5. August 1968 beim Götti auf dem Bauernhof. Mami, Papi, Lisbeth und Peter weilten in dieser Zeit in Amerika. Damals war ich bereits 14 Jahre alt und wäre gerne mitgereist. Noch im Alter von 16 Jahren musste ich in ein Herbstlager auf den Brünig gehen, während die anderen in die weite Welt abflogen. Die Filme, welche Papi während all dieser Ferienaufenthalte mit seiner 16mm-Kamera gedreht hatte, wurden mir nie gezeigt. Ich durfte auch nie mit den Eltern irgendwo hinfliegen.
Vermutlich zu Weihnachten 1963 bekam Peter von unserem Vater eine etwa 6m2 grosse Märklin-Eisenbahn geschenkt. Viele Loks und noch mehr Wagen. Auf Tischhöhe aufgebaut, präsentierten sich beleuchtete Bahnhöfe mit Schranken, Berge, Täler, Seen, Tunnels, Strassen mit Autos, Personal mit Gepäckwagen, Zugbegleiter und Menschen auf den Perrons, ähnlich wie die Modelleisenbahnen im Miniatur Wunderland in Hamburg. Ich erhielt zum selben Anlass von Mami drei frisch gewaschene, gebügelte, von Opapa vollgeschneuzte und bei seinem Besuch bei uns zurückgelassene weisse Taschentücher mit einem grossen aufgestickten F. Opapa hatte nämlich die Angewohnheit, sein Nastuch nach der zweiten Benutzung hinter sich zu legen und auf dem Stuhl oder im Fauteuil liegen zu lassen, was bei Mami stets Verdriesslichkeit auslöste. Diese Ungleichbehandlung hat meine Geschwister nie gestört, und ich gab ihnen auch keine Schuld daran. Mit der Eisenbahn durfte ich nur spielen, nachdem ich bei Papi, Mami oder Peter die Erlaubnis dazu eingeholt hatte. Dabei galt es stets genau abzuwägen, wer zu fragen war. Ich wusste, bei Mami hatte ich die kleinsten Chancen, schon etwas mehr bei Papi und die besten bei Peter. Doch diese beiden befanden sich sehr oft noch im Büro beziehungsweise in der Schule, wenn ich bereits zu Hause war. Selbstverständlich erhielt ich zu Weihnachten auch Spielsachen, aber mein Geschenkehaufen unter dem Baum war stückzahl- und volumenmässig immer der kleinste. Hierfür hat ein Kind überaus gute Augen. Was ich nie begreifen konnte: Der Päckliberg von Papi war stets der grösste, obwohl er doch bereits alles hatte, wie ich als Kind befand.
Im ungeheizten Kellerteil unter der Garage und dem Veloraum hielt ich als kleiner Junge - etwa 10jährig - darin zwei Meerschweinchen in einem bescheidenen Harass mit Heu. Ausgerechnet am Morgen, als es für mich ins Skilager ging, ich sie noch einmal füttern und mich von ihnen verabschieden wollte, lag eines tot in der Kiste, vermutlich erfroren. Grosser Herzschmerz bei mir, Tränen flossen. Nach meiner Rückkehr war das zweite Meerschweinchen weggeschenkt worden an Therese, die jüngere Tochter unserer ebenso liebenswürdigen wie effektiven Putzhilfe Frau Schenker, die zweimal wöchentlich kam und unserem Hausmädchen zur Hand ging. Nach meinem herben Verlust wünschte ich mir ein Kaninchen. Welch ein Wunder, zu Ostern bekam ich tatsächlich eines, das in einem geräumigen Stall an der Wand des Gartensitzplatzes gut geschützt gegen Wind und Regen untergebracht wurde. Ich war unbeschreiblich glücklich und konnte dadurch viele Unerfreulichkeiten übermalen, also etwas leichter ertragen. Am Osterdienstag nach der Schule war jedoch alles weg. Schon wieder Tränenfluss. Vermutlich hatte Papi das Geschenk in Eigenregie organisiert und Mamis Missfallen erregt.
Dem Besuchsbericht von Amtsvormund Felix Felber vom 13. Dezember 1963 entnehme ich: "Nachbarskinder halten das Adoptivverhältnis vor." Hier dürfte mein zweiter Vormund irren, wurde ich doch nie adoptiert. Ich kann mich erinnern, dass ich des öfteren gehänselt, bespöttelt wurde, ich sei kein "echtes" Kind der Familie Pfister. Dies tat mir sehr weh. Dem Besuchsbericht meines Vormunds bei Lehrer Alfred Regez, 4. Klasse, vom 4. Dezember 1964 entnehme ich: "Nachbar Zingg zünde Fritz an wegen Herkunft."
Ich stahl 10jährig mehrmals Geld aus den Portemonnaies meiner Eltern. Dieser Hilferuf nach Zuneigung, Wärme und Liebe wurde nicht erhört. Stattdessen fuhr Papi mit mir zur Kantonspolizei nach Aarau und liess uns eine Gefängniszelle zeigen. Hier werde ich landen, wenn ich weiter stehlen würde, sagte Papi. Die emphatischen Worte wurden mit einem unerwarteten Stoss von hinten untermauert, der so heftig und überraschend kam, dass ich in die Zelle stürzte und nach vorne auf den Boden fiel. Meine Nase blutete, vom Polizisten erhielt ich sein Taschentuch. Es war mir so was von unangenehm. Das Strafmass lautete: 10 Samstage von 13 bis 17 Uhr unserem unweiten Herrn Bolliger an der oberen Sonnhalde 5 im Garten zu helfen und das kleine Entgelt Papi abends mit einer entsprechenden Entschuldigung auszuhändigen.
Vermutlich war es im selben Jahr 1964. Papi kam wie gewohnt zum Mittagessen nach Hause. Im Eingangsbereich beklagte sich Mami bei Papi über mein Verhalten. Er solle endlich mal etwas gegen mich unternehmen. Mami konnte sehr ungerecht sein, wenn es ihrer Abneigung diente. Papi drehte sich um einen Viertel im Uhrzeigersinn und schlug mir mit seinem rechten Handrücken auf die Nase. Ich wurde zu Boden geschleudert. Während Sekunden war ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, war ich nicht etwa in Mamis Armen, sondern in denen von Papi, er kniend auf dem Boden und unter mir eine grössere Blutlache. Die Nase schmerzte wochenlang stark.
Im Gegensatz zu Lisbeth und Peter wurde ich oft geschlagen, und der Gürtel des 130 kg schweren Vaters sauste öfter mal auf meinen nackten Po nieder. Das Prozedere verlief stets nach demselben Strickmuster: Papi fasste mich am Ohr, zerrte mich unsanft die Treppe hoch in das Kinderbadezimmer, schloss die Tür und das Fenster, und dann verdrosch er mich mit der Hand, oder meist mit seinem Gürtel. Die Tracht Prügel solle mir für dies, für das oder für jenes eine Lehre sein, war der schnaubende Kommentar meines bebenden Vaters.
Ich war etwa zehn Jahre alt, Papi hatte mich wieder einmal mit dem Gürtel traktiert und Mami an die Badezimmertür gehämmert, er solle aufhören. Tage danach fragte ich Mami, weshalb sie dies getan hatte, obwohl sie mich ja nicht gern habe. Sie antwortete ganz abschätzig, ich wisse ja, dass sie nicht glücklich sein könne, solange ich in diesem Haus wohne. Sie habe es nicht meinetwegen gemacht, sie habe es für Papi getan, weil sie befürchtete, er schlage mich tot und müsse dann ins Gefängnis.
Mami schöpfte für die ganze Familie das Essen. Für uns Kinder gab es fast gleich grosse Portionen. Was von mir - dem Kleinsten - nicht aufgegessen wurde, kam im Teller in den Kühlschrank und bei nächster Gelegenheit, z.B. auch zum Frühstück, von dort wieder auf meinen Platz und schmeckte kalt einfach scheusslich. Meinen Dessert teilten sich stets Papi und Peter.
KAPITEL 8
Taschengeld gab's bei uns nach dem zehnten Geburtstag. Für Lisbeth und Peter. Über die Höhe durften mir die Geschwister nichts sagen, Mami hatte es ihnen verboten. Es kann bei Peter nicht wenig gewesen sein. Seine langen Regale waren voll von Kiosk-Heften und Autozeitschriften, die er gierig verschlang und beinahe auswendig kannte. Sein Geldbeutel war stets gut gefüllt. Als ich die Dekade erreichte und um mein Taschengeld bat, sagte mir Mami, dies sei bei mir als unehelichen, nicht adoptierten Waisenkind nicht vorgesehen. Ich könne jedoch im Garten Schnecken sammeln, mit siedendem Wasser übergiessen und würde pro Stück einen Rappen erhalten. Sofort fielen mir die schon oft gehörten Worte von Papi wieder ein, dass ich als Waisenkind auch in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie hätte aufwachsen können und dort gelernt hätte, jeden Franken zweimal umzudrehen, bevor ich ihn ausgebe, was ich nie vergessen solle. Diese Ungleichbehandlung wäre für meine Geschwister eine weitere Gelegenheit gewesen, um Solidarität zu beweisen und bei Mami zu intervenieren. Ich weiss nicht, weshalb sie es früher und auch später nie taten. Widerwillig und enttäuscht kam ich dem extra für mich ausgedachten Taschengeldangebot nach. Mami wollte allerdings nicht, dass ich die toten Schnecken in den Kompost leere - die Vorstellung war zu gräuslich –, also wurde nach wenigen Tagen ein kreisrunder, aus Gitterdraht gefertigter Kompostbehälter geliefert und in der äussersten Ecke unseres Gartens hinter Gebüsch, vom Haus aus unsichtbar, platziert. Der Gärtner wurde angewiesen, einen kleinen Teil des geschnittenen Rasens dort hinein zu werfen und den Rest wie bisher abzuführen.
Ein Tierquäler war ich nie und hoffte stets, dass die Schnecken nach dem heissen Überguss sofort sterben würden, auch wenn ich immer wieder Pfiffe vernahm und nie wusste, noch heute nicht weiss, was dies bedeutete. Da war Peter schon anders. Es muss etwa im Spätsommer 1962 gewesen sein, als er mich darauf aufmerksam machte, dass in unserem Aussencheminée eine Schnecke die Rückwand hochkrieche. Er zündete Holz an, und ich schrie, das täte der Schnecke doch weh. Er meinte gelassen: aber nicht ihm. Ich konnte nicht mitansehen, wie dieses Lebewesen elendig zu Tode kam. Als ich dieses für mich sehr erschütternde Erlebnis Mami erzählte, meinte sie in barschem Tone, dass ich sie belügen würde; das könne nicht sein. Damit war für sie die Angelegenheit erledigt. Als ich am nächsten Tag die Schnecke von der Rückwand des Cheminées nahm, war sie hart wie und hatte die Form eines Dattelsteins. Ich hatte nicht den Mut, dieses Beweisstück Mami zu zeigen. Dreissig Jahre später hatte Peter sein tierquälerisches Verhalten immer noch nicht abgelegt, denn er liess seinen drei Katzen Spunky, Lylot und Roo die Krallen ziehen! Es handelt sich um eine Verstümmelung der Katzenpfoten und ist auch in Deutschland verboten. Schweizer Tierschutzgesetz (TSchG) Art 28: "Mit Busse bis zu 20'000 Franken wird bestraft, wer vorschriftswidrig Eingriffe an Tieren vornimmt." Dass er mit seinem Ansinnen einen verantwortungslosen Tierarzt gefunden hatte, schockiert mich bis heute. Auf unserem Grundstücksareal von 3'500 m2 kam einiges an Schnecken zusammen, aber leider nicht viel Bares. Mami meinte, ich solle im Regen oder kurz danach suchen gehen, dann hätte es am meisten, dann kämen diese Dinger hervor. Die Pelerine schützte mich nur ungenügend vor Regen und Wetter. Vornübergeneigt mit ausgestreckten Armen reichte der hochgerutschte Regenschutz nicht mehr, um den südlichen Teil des Rückens trocken zu halten. In der linken Hand hielt ich den Kübel und die Taschenlampe, in der rechten die Plastikzange. Unter dieser Taschengeldarbeit habe ich sehr gelitten, aber mir nichts anmerken lassen, wenn ich nach zwei Stunden mit schmerzendem Rücken zu Bett ging und sah, wie Peter lustvoll rücklings auf dem Bett lag und stundenlang las – stets bei offener Zimmertür. Ich weiss nicht, weshalb diese immer offen stand, vielleicht weil es in seinem Zimmer immer etwas unangenehm roch. Er duschte nämlich sehr ungern. Peter hatte die Angewohnheit, im Kinderbadezimmer das Wasser der Dusche laufen zu lassen und sich davor auf den runden, roten Hocker zu setzen und zehn Minuten zu warten, bis Papi ihn eines Tages darauf aufmerksam machte, dass man vor der Badezimmertür hören könne, ob jemand unter der Dusche sei oder nur das Wasser laufen lasse.
Während die Familie im Wohnzimmer vereint zusammensass und die Samstagabendkiste schaute, war ich im Garten unterwegs und sammelte während Jahren, bis zum Start der KV-Lehre, Schnecken; auch als ich aus dem Internat, manchmal übers Wochenende nach Hause kommen durfte. Sehr gerne hätte ich Einer wird gewinnen mit dem bewunderten, charmanten, schlagfertigen, kenntnisreichen und witzigen Quizmaster Hans-Joachim Kulenkampff, dem Grandseigneur der Unterhaltungsbranche mit überdurchschnittlichem Allgemeinwissen, gesehen. Oder auch Peter Frankenfeld, Joachim Fuchsberger, Rudi Carell, Dietmar Schönherr und Vivi Bach mit ihren Liveshows.
Wenn es Dessert gab, das Peter besonders mochte, belog er mich, indem er sagte, es habe Rahm darin. Weil mir darob schlecht wurde, bekam er jeweils meines auch noch ab und verschmauste dieses. Die Eltern haben ihn nie korrigiert.
In Unterentfelden hatten wir immer einen Hund. Einmal kauften unsere Eltern eine Hündin und nannten sie - unwissentlich - wie die Nichte von Heinz, Lisbeths Mann. Als Lisbeth dies zwei Tage später erfuhr und Mami darauf aufmerksam machte, wurde der Rufname trotzdem nicht geändert. Dies ist den Eltern des Mädchens – und vor allem dem Kind selbst – gewaltig sauer aufgestossen, und sie haben sich in Unterentfelden nie mehr blicken lassen.
Wenn Peter und ich stritten, was in jungen Jahren hin und wieder mal vorkam, brauche ich vermutlich nicht zu erwähnen, wer ohne Nachtessen zu Bett musste. Peter konnte aus nichtigen Gründen abrupt sehr jähzornig werden. Einmal schlug er mir den rechten Schneidezahn aus, auch warf er den Schraubendreher nach mir und traf mein linkes Knie und ein anderes Mal ist er mit dem Küchenmesser auf mich losgegangen und hat mich am linken Unterarm verletzt. Auch gab er mir von hinten eine im wahrsten Sinne des Wortes schallende Ohrfeige, während ich lesend auf der untersten Stufe der Treppe sass. Ich sah Sternchen, und dass mein Trommelfell nicht platzte, war reiner Glücksfall.
KAPITEL 9
Das Wasser in unserem Schwimmbad wurde hin und wieder abgelassen, Boden und Wände geschruppt und danach das Becken wieder gefüllt. Normalerweise war hierfür eine Spezialfirma besorgt. Aus unerklärlichem Grund übertrug Papi plötzlich diese Arbeit an mich. Weil Peter samstags oft zur Nachhilfe musste, fragte ich, ob ich warten dürfe, bis er zurück sei und wir es dann zusammen tun könnten. Papi war einverstanden. Er muss seine Billigung Mami mitgeteilt haben, denn kaum fünf Minuten später erschien er in meinem Zimmer und befahl mir, mich sofort an die Arbeit zu machen, ansonsten dürfe ich nicht mehr darin baden. Ich war einverstanden und liess ihn wissen, dass ich fortan nicht mehr darin schwimmen würde. Da wurde er so zornig, dass er mit seinen Fäusten auf mich einschlug – auf Brust, Schulter und Rücken. Mit grossen Schmerzen kam ich seinem Auftrag nach, danach hatte ich Zimmerarrest ohne Nachtessen.
Mein Bruder war eigentlich ein sehr liebenswerter Junge. Er war aber auch voller Protest und zeigte oft ein trotziges Verhalten. Peter lehnte stets jeden Zwang ab. Er reagierte oft eigensinnig, selbst wenn es für ihn keinen Sinn machte. Er nahm sich dauernd ungestrafte Freiheiten heraus, wie ich sie mir nie im Ansatz erkühnt hätte. Im Eingangsbereich und der Küche hatten wir drei Kehrichtsackstationen. Es war üblich, den vollen Kehrichtsack bei der Haustüre zu deponieren, und wer in die Garage ging, nahm diesen mit und warf ihn dort in die grosse, runde, weisse Tonne. Peter, der Revoluzzer, stieg demonstrativ jedes Mal über den Kehrrichtsack hinweg. Wer bei ihm Druck erzeugte, rief sofort, zuverlässig und wie vorprogrammiert massiven Gegendruck hervor. Papi ertrug es nicht, wenn man Türen, seien es nun Zimmertüren oder die Eisschranktür, schwungvoll ins Schloss fallen liess. Peter hielt sich als einziger nicht daran. Wenn Papi ihn freundlich bat, bei festlichen Anlässen eine Krawatte zu tragen, weigerte er sich prompt, und Mami nahm bei Papi Einfluss. Papi war sehr darauf bedacht, dass im Haus kein unnötiges Licht brannte. So durfte in meinem Zimmer, wenn ich Aufgaben am Schreibtisch erledigte, nur die Pultlampe brennen und nicht die Allgemeinbeleuchtung, also die Deckenlampe. Das bezeichnete Papi bereits als Festbeleuchtung und nannte mich verschwenderisch. Ich war der einzige, der sich daran hielt. Lisbeth als schreckhaftes Mädchen bekam eine Ausnahmebewilligung. Peter setzte sich wortlos, dafür um so trotziger darüber hinweg; bei ihm brannten gleichzeitig alle möglichen Leuchtkörper, doch da wurde nichts gesagt, er wäre ausgerastet, – und das wusste Papi. Oft hatte ich den Eindruck, Peter hätte von sich aus dieses oder jenes durchaus freiwillig getan. Kam der Wunsch jedoch von aussen auf ihn zu, musste er aus unerfindlichen Gründen sein Veto einlegen. An seinem eigenen Hochzeitsfest (ohne Kirche) trug er eine Fliege, kein Jackett, sondern lediglich ein Gilet, was etwas unvollständig und grenzwärtig aussah und seine Frau Sheridan grässlich ärgerte. Peter hatte Sheridan in Kanada kennengelernt und sie mit in die Schweiz gebracht.
Es war vor meinem Internatseintritt. Peter und ich spielten auf der oberen Gartenfläche, also beim Gartensitzplatz. Er holte von drinnen für jeden eine Frucht. Meine Geschwister durften sich selbst bedienen, ich musste stets Mami fragen, und sie bestimmte, welche ich zu essen hatte, selbstredend immer die nicht mehr frischeste, meist ein Apfel, den ich angehalten wurde, bis auf den Stiel zu essen. Für sich schälte Mami den Apfel sehr gekonnt, schnitt ihn in sechs Teile und den Apfelkern heraus. Peter warf mir die Frucht zu, diese flog in weitem Bogen über mich hinweg an die grosse Scheibe des Wohnzimmers. Ich ging zum Blumenbeet und wollte die Frucht aufheben, denn essen konnte man sie noch alleweil. Doch schon öffnete sich das Fenster, das beinahe bis zum Boden reichte, und Papi schrie mich an, dass man nicht mit Esswaren spiele. Er zwängte seine Leibesfülle durch den schmalen Fensterrahmen. Weil ich mich fürchtete und Prügel auf mich zukommen sah, rannte ich los, quer durch unseren grossen Garten – er zornig hinter mir her. Auf Gemüsebauer und Nachbar Dätwylers Grundstück holte er mich ein, packte mich am Ohr und zerrte mich den ganzen Weg zurück ins kleine Badezimmer. Dort stiess er mich in die Dusche, während er seinen Gürtel aus der Hose zog. Ich musste meine runterlassen, und mein Po machte wie so oft in der Vergangenheit und Zukunft Bekanntschaft mit seiner Kraft und Aufgebrachtheit. Es folgten einmal mehr zwei schulfreie Tage, weil ich schmerzeshalber nicht mehr sitzen konnte. Ich hatte die Frucht nicht geworfen, bekam Papis Hass aber trotzdem zu spüren. Kurze Zeit später sollten Peter und ich die Velos putzen. Wir zogen eine Fahrradtour vor. Abends bekam ich - exklusiv - die Wut des Vaters erneut zu spüren. Sie wissen schon...
Peter weigerte sich bis zur Raserei, bis zum Tobsuchtsanfall und zur Zornesexplosion, Kleider oder Schuhe der älteren Schwester zu tragen oder mit ihren Skis zu fahren. Also blieb dieses Erlebnis mir vorbehalten. Peters Wutausbrüche waren legendär, gefürchtet, kalkulierbar und wurden seitens der Eltern nach Möglichkeit nicht herausgefordert. Er erhielt immer alles neu. Die Kleider, aus denen Lisbeth und Peter herausgewachsen waren, wurden von der Bedienten gewaschen, fein säuberlich zusammengelegt und im Schrankkeller verstaut. Wenn diese nach Jahren für mich hervorgeholt wurden, rochen sie stets nach Mottenkugeln und mussten mehrmals gewaschen werden, um den Geruch zu mildern. Da ich der Jüngste von uns dreien war, erhielt ich fast nie neue Kleider, Schuhe, gar nie neue Skis oder Velos, sondern immer die meiner älteren Geschwister. Wenn ich reklamierte, dass ich immer die Kleider austragen musste, wusste Mami zu kontern, man könne tragen, was man wolle, es schaue immer der Kopf oben raus. Wenig tröstlich! Auch die langen, unpraktischen Strumpfhosen von Lisbeth, weil ohne Schlitz, musste ich unter den Skihosen nachtragen. Während meine Kameraden ihr Pfeifchen elegant hervorholen konnten, war es bei mir etwas umständlicher. Zuerst galt es in der Toilette einen Haken für meine Skijacke zu finden, dann waren die Träger der Skihose über die Schultern abzustreifen und anschliessend die Hose und Strumpfhose herunterzuziehen, bevor ich mich meiner Unterhose - mit Schlitz - widmen und meiner Notdurft nachkommen konnte. Natürlich wurde ich von den Mitschülern gehänselt und ausgelacht. Übrigens hat Mami mir nie ein Fresspäckli ins Skilager geschickt, habe aber zuschauen müssen, wie sie vor meinen Augen grosszügige Kartonschachteln für Lisbeth und Peter füllte. Zu Weihnachten bekam ich von Nani, meines Grossvaters zweiter Frau, also der Stiefmutter meines Vaters, einen neuen "gelismeten" Pullover oder Handschuhe. Daran hatte ich immer meine helle Freude, weil eine Einzigartigkeit und allein für mich gedacht. Neue Fussballschuhe zu erhalten, hatte ich dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass Peter diese Sportart nicht ausübte. Obwohl ich beim FC Unterentfelden und danach bei den Inter-Junioren des FC Aarau spielte, kam nie jemand aus der Familie als Zuschauer an einen Match. Papi hat auch nie etwas in die darbenden Clubkassen einbezahlt, obwohl er mehrfach angeschrieben worden war. Dies wurde mir von den Verantwortlichen mehrfach vorgehalten.
Peter ist drei Jahre älter als ich und brauchte mich irgendwann nicht mehr so dringend als Spielkamerad wie früher. Deshalb bestand Mami darauf, dass ich im Alter von 12 für vier Jahre in ein Internat kam und mit 18 Jahren überraschend ganz aus dem Haus befohlen wurde. Mami sorgte also dafür, dass ich lediglich zehn Jahre in diesem Haus wohnte und sie nur für diese Zeit unglücklich sein musste. Peter durfte über 30 Jahre im Elternhaus verbringen.
KAPITEL 10
Also kam ich in das Landschulheim Oberried in Belp. Es herrschte dort Strenge und Disziplin, mitunter auch körperliche Gewalt. Morgendliche Ertüchtigung gab es in Form eines zügigen Dauerlaufs durch das erwachende Dorf oder - je nach körperlicher Verfassung des Lehrers – durch Turnübungen im Hof. Vor dem Mittag- und Abendessen mussten wir entlang der Wand uns aufstellen und der Aufsicht habende Lehrer des Tages lief der Reihe entlang und kontrollierte die Hände und Fingernägel auf Sauberkeit. Silentium herrschte bei Tisch die ersten zehn Minuten. Und täglich vor dem Abendessen wurden während zwei Stunden bei konzentrierter Stille in Anwesenheit einer Lehreraufsicht die Hausaufgaben erledigt. Das Internat bestand aus vier Klassen. Zwei Jahre zählte man zu den Kleinen, zwei Jahre zu den Grossen. Alternierend konnten diese und jene jedes zweite Wochenende zu den Eltern fahren, die meisten wurden von ihnen abgeholt. Ich wurde nie abgeholt und durfte nur jedes vierte oder sechste Wochenende nach Hause, denn des öfteren kam mein Besuch ungelegen. Mami hat im Internat regelmässig dem für die Administration zuständigen liebenswürdigen und verständigen bereits pensionierten Herrn Sommer mitgeteilt, ohne mich ans Telefon zu verlangen, dass ich am folgenden Wochenende nicht heimkommen könne, weil irgendwelche fadenscheinigste Umstände dies verhinderten. Meine Mitschüler und die Lehrerschaft konnten diesen Turnus nicht verstehen, und ich hatte öfters einen Erklärungsnotstand. Herr Sommer gebrauchte stets tröstende Worte und hat mir immer eine Süssigkeit zugesteckt, wobei seine Augen sehr oft feuchter als die meinen waren. Durfte ich übers Wochenende nach Hause, so musste ich am Samstagnachmittag zu Fuss vom Bahnhof Aarau nach Unterentfelden gehen – in der Hand den verhassten, stoffigen, fleckigen, ballonförmigen Wäschesack. Ich habe mich immer peinlich geschämt und ab Aarau einen Umweg durch ruhige Quartierstrassen statt die kürzere Hauptstrasse gewählt, damit mich möglichst niemand sehen konnte. Die Verschmutzung des Wäschesacks rührte vom Transport in Frachtwagen der SBB her. Blieb ich im Internat, so wurde der Wäschesack hin und her geschickt. Selten lag ein Brief oder eine Karte bei und kaum je etwas Süsses. Am Sonntagabend wurde ich fast immer von Papi zum Bahnhof gefahren mit sauberer Wäsche im verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack. Die Fahrt bestand aus einer einzigen Moralpredigt während der ganzen Fahrt. Seine letzte Gelegenheit für Ermahnungen und Vorwürfe statt lieber Worte. Nie begleitete er mich zum Gehsteig, sondern liess mich bei laufendem Motor aussteigen. Ohne einen letzten Wink fuhr er von dannen, oft musste ich weinen. Mein Kollege Thomas vom Herrenmodegeschäft Leutwyler in Aarau wurde stets von seinem Vater, meistens auch noch von seiner Mutter, bis aufs Perron begleitet, und sie warteten und winkten, wenn der Zug abfuhr. Zu jener Zeit konnten die Fenster noch heruntergelassen werden und er, aber auch ich winkten zurück. Unterwegs stiegen weitere Mitschüler zu. Mächtig habe ich diese um ihre schmucken Koffer beneidet. Mein mühsam erarbeitetes Taschengeld habe ich u.a. mit Geschicklichkeitsspielen und dem Jassen um Geld, aufgebessert. Gemäss meinem Tagebuch habe ich im September 1968 vier Franken und 60 Rappen dabei eingenommen. Ganz besonders beliebt war ich bei Mitschülern als Darlehensgeber. Bei einigen herrschte bereits am Mittwoch eine Leere im Geldbeutel, und der Samstag war noch weit weg. Also wurde ich um 10 Franken angegangen und erhielt am Sonntag nach deren Rückkehr aus dem Wochenende 11 Franken. Ich hatte immer verhältnismässig viel Geld. Nicht, weil ich viel bekam, sondern weil ich fast nichts ausgab. Niemand wusste, dass ich es zuhause hart verdienen musste und nicht einfach so, geschenkt bekam. Während meiner gesamten Jugendzeit und auch später musste ich auf vieles verzichten. Papi sagte stets belehrend zu mir: "Gespartes Geld ist verdientes Geld." Ich verdiente und sparte. Bei so grämlich erarbeitetem Geld überlegte ich mir jede Ausgabe mehrfach. Also sagte ich mir, wenn ich jetzt einen Franken verchrömle, muss ich mich nach 100 Schnecken bücken. Das lehrt einen, sehr haushälterisch und bedacht mit Geld umzugehen, und ich habe mir infolgedessen die meisten unnötigen Ausgaben verkniffen. Nachdem ich im Internat zum ersten Mal bestohlen wurde, nahm ich mein kleines Portemonnaie auch mit in die Sporthose und verlor es prompt. Also liess ich das Geld in meinem Zimmer, und es wurden mir weitere zwei Male Banknoten entwendet. Ich informierte Mami über diesen Verlust, hoffte auf Ersatz, aber es hiess stets, ich müsse besser aufpassen, da könne man mir nicht helfen. Mami war Weltmeisterin im Verdrängen. Ging ich aus irgendeinem Grund trostsuchend zu ihr und klagte ihr mein Leid, so blockte sie ab und konterte: "Denk nicht daran, dann löst sich das von selbst." Innigst bat ich meine Eltern, wenigstens zu den zwei wichtigsten Internatsanlässen zu erscheinen. Sie versprachen es, kamen jedoch nie. Entweder telefonierte Mami kurz davor und liess ausrichten, es sei ihnen etwas dazwischen gekommen, was sehr oft nicht stimmte, oder sie meldete sich nicht und sagte mir später, sie hätten es vergessen. Worum ging es? Es war ein Gebot, dass die Kinder am Samstag vor den Sommerferien zwischen 8 und 12 Uhr von den Eltern abgeholt wurden. Diese nahmen die Gelegenheit wahr für einen Schwatz mit dem Klassenlehrer oder der Internatsleitung. Ich musste als einziger mit meinem verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack vorbei an den Mitschülern und deren Eltern zum Bahnhof laufen. Nach dem Internatstor brachen die Tränen hervor, und ich winselte wie ein Kettenhund. Kurz vor Heiligabend gab's klassenweise eine Bühnendarbietung im Internat. Die stolzen Eltern waren eingeladen und konnten, nach einem gemeinsam eingenommenen Weihnachtsessen, ihr Kind sogleich mit nach Hause nehmen. Ich hatte meine Eltern jeweils angefleht, bitte auch zu erscheinen, fieberte und zitterte diesem Anlass entgegen. War ich bereits wegen meines Bühnenauftritts nervös, so steigerte sich diese Nervosität noch ob der bangen Frage, ob die Eltern eintreffen würden. Werden sie kommen? fragte ich mich. Versprochen hatten sie es. Nach der ersten Enttäuschung war ich überzeugt davon, dass sie nächstes Jahr garantiert mit dabei sein würden. Leider wieder nichts. Beim dritten Anlass war ich mir unsicher, und vor dem vierten dachte ich, dass sie ganz bestimmt kämen. Ich würde ja in vier Monaten das Internat verlassen – es war die letzte Gelegenheit. Ich kann meine Gefühlslage nach der herben Traurigkeit, dass sie wieder nicht erschienen waren, nicht beschreiben. Nach unserem Auftritt ging ich immer unauffällig auf mein Zimmer, denn ich konnte doch nicht zu irgend einem Kameraden und seinen Eltern sitzen, die mich bestimmt fragen würden, wo denn meine Eltern seien. Ich schämte mich grässlich und war zu tiefst enttäuscht, dass sie nicht gekommen waren. Auf dem Zimmer legte ich mich aufs Bett und weinte jämmerlich und laut heraus. Hören konnte mich niemand, die Weihnachtsfeierlichkeiten wurden drei Stockwerke tiefer abgehalten. Hunger verspürte ich keinen, der kam auch nicht am nächsten Morgen. Sobald ich nach zwei, drei Stunden Lärm im Treppenhaus hörte, versteckte ich mich unter meinem Bett und wartete, bis der Zimmerspezi sein Gepäck geholt hatte. Wenn auf dem Gang wieder Ruhe eingekehrt war, konnte ich zu Bett gehen und flennte noch Stunden. Ich war stets der einzige, der nach dem schulischen Weihnachtsfest eine weitere Nacht im Internat verbrachte. Am nächsten Morgen schlich ich mit roten Augen und geschwollenen Lidern ganz früh davon, wartete vor dem verschlossenen Billetschalter auf die Öffnung, um vom nicht erhaltenen Taschengeld meiner Eltern ein Ticket zu lösen, das mich mehr als 300 Schnecken kostete, mit dem Zug von Belp nach Aarau fuhr und dann mit dem verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack zu Fuss nach Hause ging. Meine Eltern ahnten wohl nicht, was sie durch ihr Verhalten in meinem Herzen unwiderruflich zerstört hatten. Einmal verlor ich das Retourbillet von Belp nach Aarau und musste den Kondukteur auf den Bahnhofsposten Aarau begleiten. Der Vorstand telefonierte meinen Eltern. Das Hausmädchen nahm den Anruf entgegen. Es war ein Samstagnachmittag und Papi war zu Hause. Er solle mich holen kommen, das Billet müsse aber nochmals bezahlt werden, sechs Franken und zwanzig Rappen. Papi kam, zeigte sich gegenüber dem Bahnhofschef recht verständnisvoll, und wir begaben uns zum Auto, das er an der Bleichemattstrasse parkiert hatte. Kurz vor dem Auto – im Gegensatz zum Bahnhof hatte es hier keine Menschen – änderte sich seine Tonalität, und er schrie mich an, dass ich es mit meinem Verständnis für Zuverlässigkeit und Verantwortung nie zu etwas bringen würde, ich müsse zur Strafe nach Hause laufen. Den verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack nahm er mir ab. Als ich zu Hause eingetroffen war, wartete er schon im Hauseingang auf mich, und seine berechtigten, aber unnötigen weiteren Vorwürfe wollten nicht abreissen. Nach der Strafpredigt erteilte er mir Zimmerarrest, damit ich Zeit hätte, über Ordnung, Sorgfalt und die so wichtige Zuverlässigkeit nachzudenken. Seine Tiraden haben mich noch lange beschäftigt und ein tiefes Schuldgefühl in mir ausgelöst. Die Bediente brachte mir das Essen. Das Zimmer durfte ich nur für das WC und die Dusche am Sonntag verlassen. 30 Stunden nach meiner Ankunft im Haus erfolgte der Abmarsch zum Bahnhof mit dem verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack. Einmal in der Woche durfte jedes Kind während des Studiums das Schulzimmer für ¾ Stunden verlassen und in einem der drei Badezimmer in die Wanne steigen. Öfters benutzte ich die Gelegenheit, um meinen verhassten, stoffigen, fleckigen Wäschesack mit in die Badewanne zu nehmen, ihn einzuweichen, die gröbsten Flecken abzuschwächen und Stoff gegen Stoff zu reiben. In den Internatsfrühlings- und -herbstferien musste ich tagsüber bei Möbel Pfister in Suhr für ein kleines Entgelt arbeiten und abends oft Schnecken einsammeln.
Lisbeth bekam von den Eltern schönes Schreibpapier geschenkt, eingekauft in der Papeterie Hagenbuch in Aarau. Dieses war mit farbigen Blümchen am Rande verziert. Hierauf schrieb sie mir hin und wieder ins Internat. Peter erhielt als Schreibpapier karierte Blocks. Ich musste mich abfinden mit von Papi vom Geschäft nach Hause mitgebrachten, einseitig bedruckten gelben Blättern, worauf die neuen Sortimentsartikel beschrieben waren. Auf der Rückseite war Platz für meine Notizen. Papi benutzte diese auch für seine Ermahnungsbriefe an Peter und mich. Im Internat habe ich sämtliche Briefmarkenalben meinem besten Freund Roland Blaser geschenkt, weil ich ihn sehr mochte und zur Überzeugung gelangt war, dass Briefmarken vergilben und leicht beschädigt werden können. Dafür intensivierte ich meine Münzensammlung. Eines Tages entdeckte Mami bei mir in einem hölzernen, wunderschön bemalten, von Götti vor Jahren erhaltenen Kässeli viel Kleingeld. Sie bezichtigte mich des Diebstahls. Ich hatte die Münzen aber seit Jahren gesammelt und konnte ihr beweisen, dass alle mit Datum vor 1900 waren und nicht gestohlen sein konnten. Trotzdem hat sie mir die raren Stücke weggenommen. Als ich dies Opapa erzählte, schenkte er mir bei unserem nächsten Treffen einige vermutlich wertvolle goldene und silberne Gedenkmünzen und Medaillen. Bei einer handelte es sich um eine grosse Gedenkmünze auf John F. Kennedy. Man sah ihn darauf mit der First Lady im Wagen fahren, bevor die tödlichen Schüsse fielen. Von dieser Münze sollen nur wenige hundert Stück in Umlauf gebracht worden sein, bis der Verkauf von einem Tag auf den anderen gestoppt werden musste. Es gab ein Gerichtsverfahren, und der nicht verkaufte Rest musste aus ethischen Gründen eingeschmolzen werden. Opapa sagte mir, er habe diese Münze von einem Amerikaner erhalten, dem er in den dreissiger Jahren das Leben gerettet habe. Als dieser zu Vermögen gekommen war, habe er ihm dieses Geschenk gemacht. Während meiner Lehre musste ich Papi sämtliche Münzen zu meinem Schutz aushändigen, damit ich diese nicht zu Geld machen und unsinnige Dinge kaufen würde. Ich bekäme sie ganz sicher wieder zurück, er würde sie sorgfältig für mich aufbewahren. Sie wurden mir nie zurückgegeben.
In unserem Hause mochte niemand den Brotanschnitt. Wenn ich gelegentlich am Wochenende aus dem Internat nach Hause kommen durfte, lagen zwei, drei grössere, steinharte Anschnitte für mich in der Brotschublade, und Mami achtete sehr genau darauf, dass diese von mir gegessen wurden. Wenn ich bei Mami den trockenen, nicht zu zerbeissenden Anschnitt reklamierte, erwiderte sie sehr aufgebracht: "Es gibt kein hartes Brot, nur kein Brot ist hart." Also hineingetaucht in meine heisse Milch. Das war dann mein Nachtessen. Auf meine Frage, wer denn die Brotenden essen würde, wenn ich nicht zugegen sei, antwortete mir das Hausmädchen, dass diese meist im Kehricht landen würden oder der Hund sie bekäme.
Während vier Jahren im Internat wurde ich ein einziges Mal von den Eltern besucht. Es war an einem Sonntagabend. Sie hatten mit Peter eine Tropfsteinhöhle in der Umgebung von Thun besichtigt und sich auswärts verköstigt. Auf der Fahrt nach Hause, die durch Belp führte, machten sie einen Stopp bei mir. Aus lauter Freude, Überraschung und Aufregung war ich dermassen überwältigt, dass ich bei dieser Begegnung auch meinen Bruder geküsst habe, wohl einmalig in unserem Leben. Es wäre sehr wohl möglich und von der Internatsleitung erlaubt und begrüsst gewesen, mich auf dem Hinweg nach Thun abzuholen und mit mir den Sonntag zu verbringen. Das hätte mich riesig gefreut. Als ich diese Nichtberücksichtigung realisiert hatte, wäre es mir lieber gewesen, sie hätten die Visite in meiner Schule unterlassen.
Im Internat bekamen die jüngeren zwei Klassen zwei Franken und die älteren drei Franken Sackgeld pro Woche. Meine zwei oder drei Franken stellten einen Minimalwert dar. So wenig Taschengeld wie ich hatte kein anderes Kind. Wenn sich andere Mitschüler am Kiosk mit Schleckwaren eindeckten, habe ich mir dies untersagt; ich verkniff mir meine Wünsche. Und was die Kinder von den Eltern nach den Wochenenden alles mitbekamen an Süssigkeiten, da konnte ich, nichts habend, nur staunen. Ich bettelte nie bei meinen Kameraden und lehnte eher ab, als dass ich etwas von ihnen annahm, denn ich hätte mich ja nie revanchieren können. Also äusserte ich jeweils widerwillig, dass ich Süssigkeiten gar nicht so gern hätte.
Das Internat verfügte über einen Tennisplatz, und ich wünschte mir von meinen Eltern einen Tennisschläger. Nach 16 Monaten und mehreren Erwähnungen erhielt ich zu meinem 13. Geburtstag von den Eltern einen solchen geschenkt. Den von Papi aus seiner Jugend in Erlenbach, gut und gerne 30 Jahre alt, man sah es ihm auch an. Unhandlich, schwer gegenüber einem neueren Modell, mit verzogenem Holzrahmen und entsprechend lädierter Bespannung, also sogenannten toten Saiten. Damit konnte beim besten Willen nicht gespielt werden, und ich wäre von meinen Mitschülern ganz sicher belächelt und hochgenommen worden. Die Courage, meine Eltern um einen neuen Schläger anzugehen, hatte ich nicht.
Die Schulsachen musste ich im Internat selbst berappen; so zum Beispiel am 21. August 1968, als ich mir in Belp die Pelikanfüllfeder für 14 Franken kaufte. Das bedeutete, mich hierfür nach 1'400 Schnecken bücken zu müssen. Ich hätte mir diese Feder auch auf den nahenden Geburtstag wünschen können, doch hatte ich nicht Mut genug, darum zu bitten, ich war schliesslich auch nicht gefragt worden, was ich mir denn wünschte. Also erhielt ich zum 14. Geburtstag von den Eltern als Geschenk Papis in die Jahre gekommenes Fahrrad mit altmodischem Kettenkasten. Ich habe Papi nie auf dem Rad gesehen und durfte dieses bereits früher hin und wieder nach Rückfrage benutzen, aber er betonte stets, es sei sein Fahrrad. Peter hatte sich geweigert, Papis altes Velo zu fahren und erhielt ein neues. Wenn Peter ein neues Fahrrad wollte, durfte es auch eines der Marke Allegro sein, das Beste und Teuerste zu jener Zeit. Er bekam es und ich sein altes. Ein neues Fahrrad habe ich nie erhalten.
Es kam nicht selten vor, dass Eltern für alle Schüler eine Nachspeise ins Internat schicken liessen. Man ging anschliessend zum Kameraden und bedankte sich hierfür mit Handschlag. Dies verlieh dem Betreffenden jeweils ein erhebendes Gefühl. Ich habe dies meinen Eltern gegenüber hin und wieder erwähnt, und sie haben ganz bestimmt wahrgenommen, worauf ich hinauswollte, doch kam ihrerseits nie etwas. Weil mein Onkel Jürg Pfister vor etwa 20 Jahren auch hier zur Schule gegangen war, war durchgesickert, dass ich der Familie Möbel Pfister angehörte. Ich wurde von meinen Mitschülern angegangen, weshalb von meinen reichen Eltern nie etwas kam. Antwortphantasie war gefragt.
KAPITEL 11
1968 hatte Peter die Aufnahmeprüfung in die Kantonsschule Aarau nicht geschafft. Es folgte ein Zwischenjahr in einer Privatschule, und mit zusätzlichen Nachhilfestunden wurde er intensivst auf die Prüfungswiederholung vorbereitet.
In der Pubertät hing ich gedanklich hin und wieder irgendwelchen Ideen und Überlegungen nach. Oft stellte Mami die Frage: "Woran denkst du?" Wollte ich ihr dies nicht mitteilen, so antwortete ich: "An nichts." Doch sie widersprach: "Man denkt nicht an nichts, jetzt raus mit der Sprache." Ein wesentliches Element in der Persönlichkeitsentwicklung sieht der Psychologe Howard Gardner darin, dass die Eltern den Jugendlichen bei seinen Träumereien in Frieden lassen. Dies gibt Kindern "die Gelegenheit, sich auf geruhsame Art, der eigenen Neugier folgend, intensiv mit ihrer eigenen Welt vertraut zu machen". Auf diese Weise sammeln sie "Kreativitätskapital" für ihr ganzes Leben. Die Kindheit nennt er daher einen "mächtigen Verbündeten".
Kultur war in unserem Hause wenig präsent. Museen konnten Papi nicht begeistern, und es kam keine dreimal vor, dass die Eltern mit uns Kindern an ein Konzert, ins Kino oder Theater gingen, denn mit seiner Physis war jeder Sitzplatz für Papi beengend. Mir ist der Besuch der Niederdorfoper in Zürich in Erinnerung geblieben – und zwar deshalb, weil Peter seine Freundin Elisabeth Odersky und Lisbeth ihre bis heute beste Freundin Michaela Valli mitnehmen durften und ich dadurch aus Platzmangel im Auto alleine zu Hause bleiben musste. Auch ansonsten wusste Papi eigentlich mit uns Kindern wenig anzufangen. Er hat kaum je etwas mit uns unternommen und auch nie gespielt. Ich kann mich an eine einzige Schachpartie mit ihm erinnern, das dürfte es gewesen sein.
Peter hatte im Elternhaus in Unterentfelden die handbemalten Möbel von Papis ehemaligem Kinderzimmer in Erlenbach erhalten. Lisbeth erhielt das grösste Zimmer zugewiesen, eines von zwei Eckzimmern am Ende des Ganges, gut und gerne 25m2 mit zwei getrennten Betten, raumhohen Schränken, einem riesigen Schreibtisch mit Korpus links und rechts, meterlangen Regalen und einem eigenen Lavabo. Mein Zimmer bestand während 10 Jahren aus zusammengewürfelten Einrichtungsgegenständen des Hauses, das meine Eltern zuvor für kurze Zeit in Buchs (AG) bewohnt hatten. Gemäss Tagebuch standen Ende April 1968 plötzlich schöne neue Möbel aus einem Guss in meinem Zimmer. Ich hatte eine Riesenfreude daran und trug grosse Sorge zu den guten Stücken wie Schrank, Bett, Pult, Stuhl, Regal. Als Peter definitiv von zu Hause auszog, durfte er die Möbel seines Zimmers nach Erlinsbach (AG) mitnehmen. Als ich Anfang 1975 nach dem Englandaufenthalt die erste Einzimmerwohnung, ohne Balkon, in Gränichen bezog, durfte ich meine Möbel von zu Hause nicht mitnehmen. Mein Zimmer würde als weiteres Gästezimmer benötigt, argumentierte Mami. Die ersten Wochen in Gränichen wohnte ich in einem leeren Zimmer, ass stehend in der Miniaturkochnische, las die Bibliotheksbücher im Schneidersitz oder auf dem Toilettendeckel und schlief auf dem Linoleumboden in eine Decke gewickelt, weil ich kein Geld hatte, mich bei Möbel Pfister einzudecken, denn Wohnungseinrichtungen in günstigen Warenhäusern zu kaufen, war ein Unding für Papi. Also musste ich erst genügend Geld zusammensparen, um Monat für Monat etwas für die Wohnung anschaffen zu können.
KAPITEL 12
Um Lisbeths Englischkenntnisse zu vertiefen und als junge Frau etwas Abstand vom Elternhaus zu gewinnen, war ein achtmonatiger Englandaufenthalt anberaumt worden. Sie flog am 8. Januar 1969 mit einer Boeing 707 im Direktflug nach England. Weiter ging's mit dem Zug nach Bournemouth. Lieber wäre ihr die kurzweilige Grossstadt London gewesen, doch der vorsichtige und ängstliche Papi befand: Zu gefährlich! Zu ihrem 20. Geburtstag haben unsere Eltern sie besucht und mit ihrer Gastfamilie gross gefeiert.
Papi sass im Esszimmer unseres Hauses am Kopf des ovalen Tisches, Mami halbrechts von ihm und Peter rechts von ihr. Als Lisbeth noch zu Hause wohnte, sass sie halblinks von Papi und daneben ich. Nachdem Lisbeth ausgezogen war, sollte Peter ihren Platz einnehmen. Das behagte ihm aus mir unerklärlichen Gründen aber nicht. Er verlegte seinen Sitzplatz demonstrativ und für Jahre an das Tischende abseits der übrigen Familienmitglieder und ich durfte auf den Platz von Lisbeth nachrücken.
Eines Tages erblickte ich auf der Kommode im ersten Stock das Ölpintli. Später sah ich Mami damit in den Keller gehen und dieses wieder an seinen Platz zurückstellen. Meine Türe war die einzige von den vier Kinderzimmertüren, die sich geräuschlos öffnen liess. Wiederholt schlich sich Mami in mein Zimmer und schaute über meine Schulter, wenn ich am Pult sass. Sie stand dann rechts hinter mir im dunklen Teil des Raums, und ich erschrak jedes Mal, weil das sehr gespenstisch aussah. Mein Zimmer war auch das einzige, bei dem der Türschlüssel nicht steckte; ich konnte das Zimmer im Gegensatz zu Lisbeth und Peter nie abschliessen.
1969 sollte auf der benachbarten Parzelle ein Haus gebaut werden. Der Bauherr mit Namen Ullmann fragte, ob er den gesetzlichen Grenzabstand unterschreiten dürfe. Papi war unter der Bedingung einverstanden, dass er den 1951 gepflanzten, kurz zuvor per Helikopter verschobene, bereits an die 10 m hohen Eichenbaum am neuen Ort uneingeschränkt weiter wachsen lassen dürfe. Sie hatte weichen müssen, weil ein Hallenbad an unser Haus angebaut worden war. Die Eiche wuchs und wuchs und wuchs und die Äste ragten mehr und mehr und mehr in Nachbars Garten und nahmen ihm jedes Jahr mehr Sonnenschein. Obwohl diese Rieseneiche von unserem Haus aus nicht zu sehen war – man musste dafür einige Meter in den Garten hinaustreten –, liess Papi sie weiter spriessen. Frau Ullmann sprach Mami nach einigen Jahren an unserer Haustür in meinem Beisein auf die Eiche an, die wenig Freude bereite und arg viel Schatten werfe. Sie fragte, ob diese nicht etwas zurückgestutzt werden könnte. Mami versprach ihr, dies mit ihrem Mann zu besprechen. Frau Ullmann beklagte sich später bei mir, dass ihr nicht einmal eine Antwort gegeben wurde. Der Kontakt zur Familie Ullmann war stets oberflächlich, freundlich, licht und lau gewesen, wie übrigens auch mit den übrigen direkten Nachbarn Widmer, Lauchenauer und Dätwyler. Mit den Jahren wurden wir vom Ehepaar Ullmann nicht mehr gegrüsst. Im Juni 2015 betraten Bigi, - meine Frau - und ich (sie erstmals, ich letztmals) mein Vaterhaus und Grundstück. Die Eiche hatte eine Höhe von geschätzten 20 Metern erreicht und der Stamm einen Umfang von mindestens deren drei. Sie war schliesslich über 60 lange Jahre gewachsen.
Als ich im März 1969 übers Wochenende vom Landschulheim nach Hause kam, erfuhr ich von Papi, dass Peter die schriftliche Prüfung zur Kantonsschule geschmissen, also wieder nicht bestanden hatte. Durch die Prüfung war er durchgerasselt, obwohl es von Papis Seite zu einem längeren Telefonat und einer Besprechung mit dem Rektor vor Ort gekommen war, wo die einzelnen Arbeiten detailliert besprochen und analysiert wurden. Ausschlaggebend seien nicht die Noten allein, sondern auch Peters mangelnde geistige und seelische Reife gewesen, wusste Papi zu berichten. Peter war verzweifelt und unzufrieden mit sich selbst. Er wusste nicht, wozu er Lust und Laune hatte, was er sollte, was er wollte, wie seine Zukunft zu gestalten wäre. Er haderte mit sich selbst. Also war der Berufsberater angesagt. Man entschied sich für eine KV-Lehre. Als er sich um einen Lehrbetrieb bemühte, war ihm bei diesem Unterfangen kein Erfolg beschieden. Seine ungeschickte, wenig diplomatische, verstockte Art, seine Unfähigkeit zu jener Zeit, Menschen offen in die Augen zu sehen, ergaben nur Absagen. Diverse Räder wurden in Bewegung gesetzt, Papi und Edy Burkhardt (CEO von Möbel Pfister AG) bemühten sich um eine geeignete Lehrstelle. Es war nicht einfach. Schlussendlich kam Peter beim Schweizerischen Bankverein in Aarau unter. Weshalb wohl? Die Firma Möbel Pfister liess seit Jahrzehnten bedeutende Vermögensanlagen dort verwalten und wickelte einen grossen Teil des Zahlungsverkehrs über diese Bank ab. Papi hatte sein Millionenportefeuille ebenfalls bei dieser Bank. Peter konnte also sicher sein, dass er die nächsten drei Jahre mit Samthandschuhen angefasst werden würde. Es hatte aber auch den Nachteil, dass er von einigen Neidern herablassend als fils de papa betrachtet wurde. Als ich meinen Bruder einmal fragte, wie viel Geld Papi beim Bankverein parkiert habe, antwortete er, Mami - nicht etwa Papi - habe ihm ausdrücklich verboten, mir hierüber etwas zu sagen. Während Peters KV-Lehre habe ich oft lauten Streit zwischen ihm und Papi vernommen, denn bei Peter zeigte Papi Gefühlsregungen: Sympathie, Antipathie, Interesse, Zuneigung, Verantwortung und Liebe. Peter war ihm sehr wichtig, sein eigenes Blut. Oft büffelten Papi und Peter abends.
Verbale Auseinandersetzungen mit Papi gab's bei mir kaum, er hatte sich nie in einem etwas ernsteren Sinne mit mir beschäftigt. Irgendwann zeigte er mir gegenüber eine sonderbare Gleichgültigkeit. Entweder weil er an mir desinteressiert war oder weil er wusste, dass ich meinen Weg schon machen würde. Zu einem ernsthaften Gespräch mit ihm kam es eigentlich nie. Er hat mich zurechtgewiesen, gab mir Anweisungen, Befehle, äusserte Vorwürfe und Rügen – damit war seine Art von Gespräch bereits vorüber. Er meinte wohl, ich könne nur durch Kritik lernen und wachsen.
Weil ich bereits am Dienstag, 12. August 1969, von den Ferien auf dem Bauernhof zurückkam, musste ich Mittwoch bis Freitag noch für drei Tage nach Suhr arbeiten gehen. Als ich zum donnerstäglichen Mittagessen nach Hause kam, lag ein Brief für mich auf dem Officetisch – von meinem ersten Schulschatz Susi Fessel. Nachdem ich dieses nun wirklich harmlose Schreiben gelesen hatte, schob ich's ins Couvert zurück, bis ich mit der Hand am Rand anstiess und legte es auf mein Pult. Abends nach der Arbeit bemerkte ich, dass Mami ihn gelesen hatte, denn der Brief war nun bis zum hinteren Ende des Couverts eingeschoben. Mami leugnete dies. Doch es konnte niemand anders gewesen sein, denn wir waren zu dieser Zeit nur zu dritt im Hause. Lisbeth weilte in England, und Peter wieder mal auf Reisen. Als ich beim Nachtessen gegenüber Papi erwähnte, dass Peter in den Sommerferien nie arbeiten gehen musste, drohte er mir, mich wieder ins Waisenhaus zurückzubringen, wo ich herkomme, wenn sich meine Undankbarkeit und Einstellung nicht stantepede ändern würde. Am Sonntag, 17. August, ging's ins gelobte Internat zurück; ich war überglücklich, meine Kameraden und Lehrer wieder zu sehen.
Der Notiz von Herrn Ernst Fasler, meinem Vormund, nach einem Telefongespräch mit Mami vom 16. März 1970 entnehme ich: “Fritz werde am nächsten Freitag, 20. März, in Belp entlassen, am nächsten Sonntag konfirmiert (Tatsache, dass nicht getauft, spiele keine Rolle) und werde am 1. April 1970 die Lehre antreten bei der Winterthur-Unfall. Es sei nach einer Ohrfeige ganz gut gegangen.” Als ich mich am 20. März 1970 endgültig, mit Tränen in den Augen, von den liebgewonnenen Lehrern und der Internatsleitung verabschiedete, sagten mir Herr Max und seine Frau Ursula, es sei ihnen wahrhaftig noch nie vorgekommen, dass sie die Eltern eines Schülers in den vier Jahren des Internatsaufenthalts nur ein einziges Mal gesehen hätten, nämlich beim obligatorischen Eintrittsgespräch. Weder mein Vater noch meine Mutter hätten sich bei ihnen nach mir erkundigt. Sie hätten die Order gehabt, sich mit meinem Vormund kurzzuschliessen, wenn es etwas zu besprechen gäbe. Dieser hat mich einmal im Internat besucht und sich jährlich für seinen Bericht telefonisch bei Herrn Max nach mir erkundigt. Wiederum war ich der einzige, der von seinen Eltern nicht abgeholt wurde und den Zug nehmen musste.
KAPITEL 13
Als es um meine Berufswahl ging, war ich selbst gefordert. Den Lehrbetrieb musste ich alleine suchen und finden. Hilfe oder gute Ratschläge von Papi oder Mami bekam ich keine. Im Gegensatz zu Peter war ich praktisch und handwerklich sehr begabt und wollte eine Schreinerlehre absolvieren, denn das technische Zeichnen lag mir, die Arbeit mit Holz und dessen Geruch mochte ich sehr. Papi verbot mir dies lautstark und behauptete, das sei ein brotloser Beruf, ich solle wie Peter das KV machen. Unschlüssig konsultierte ich in den Herbstferien 1969 den Berufsberater Felber in Aarau. Er riet mir, die Lehre auf der Gemeindeverwaltung Unterentfelden zu absolvieren. Diese Ausbildung sei vielfältiger, abwechslungsreicher und interessanter als sonstwo und man lerne mehr, was einem im späteren Leben zustatten käme. Bevor ich mit Papi hierüber gesprochen hatte, verwarf Mami diese Möglichkeit, sie wusste sehr wohl warum.
Herr Fasler hatte mich am 11. September 1969 im Internat besucht und auch ein längeres Gespräch mit Herrn Max geführt. Der Aktennotiz von Herrn Fasler von diesem Tag entnehme ich: "(…) Die Unterredung mit Fritz ergibt, dass er es als selbstverständlich ansieht, dass er in Aarau die Lehre macht, damit er daheim wohnen könne." Lese ich daraus, dass eine Lehre ausser Hause mit den Eltern besprochen worden war? Gut möglich, denn Mami hätte damit ihr Ziel erreicht; sie könnte weiterhin glücklich sein, denn ich würde nach dem Internat nicht wieder zu Hause wohnen. Weiter schrieb Herr Fasler: "Es scheine, dass der Vater den Kontakt nicht finde mit ihm und zu stark auf seine Autorität poche, was dann zu unliebsamen Diskussionen führe. (…) Mein Eindruck: aus diesem Burschen kann man noch etwas machen, erträgt aber Autorität nicht gut, es sei denn, es handle sich um natürliche."
In einer weiteren Aktennotiz von Herrn Fasler vom 18. September 1969 heisst es: "Eine längere Aussprache mit Hr. + Frau Pfister ergibt, dass - vor allem Hr. Pfister - zu viel erwartet von Fritz und seine Autorität ausspielt."
Der Telefonnotiz von Herrn Fasler mit dem Berufsberater Felber vom 21. Oktober 1969 entnehme ich: "Fritz Pfister sei bei ihm in Beratung gewesen. Er habe keinen schlechten Eindruck von dem Jüngling, und intelligenzmässig sei eine kaufm. Lehre ohne weiteres möglich. Er würde allerdings nicht das Bankfach vorschlagen, das zu abstrakt sei. Fritz stelle sich vor bei Winterthur-Unfall und Treuhand-Grütter im Sinne einer Berufsbesichtigung. (…) Autoritätskonflikte seien da (mit Vater Pfister nicht besprochen). Auch mit dem älteren Pfisterknaben Peter sei es zeitweise nicht sehr gut gegangen, dieser habe jetzt mit 18 Jahren eine Lehre begonnen. Fritz wie auch Herr Pfister sehen es als selbstverständlich an, wenn Fritz die Lehre von Unterentfelden aus mache."
Der Telefonnotiz von Herrn Fasler mit Mami vom 17. Dezember 1969 entnehme ich: "Durch Vermittlung der Berufsberatung habe Fritz bei der Winterthur eine Lehrstelle gefunden, er könne im Frühling anfangen. Sein Verhalten habe sich nach einer weiteren Krise - er erhielt dabei einen Klapf vom Vater - erfreulich gebessert. Es gehe gegenwärtig gut."
Lisbeth hätte nach ihrer Rückkehr aus England gerne an der Universität Zürich studiert. Doch Papi verlangte, dass sie während dieser Zeit zu Hause wohnen müsse. Also entwischte sie lieber nach St. Gallen zu ihrem Heinz, dem HSG-Studenten, und kam bei Fischbacher & Stoffel als mehrsprachige Sekretärin, auch in Kurzschrift, ihrem Broterwerb nach. Dies ging nicht ohne wochenlange Nebengeräusche seitens unseres Vaters ab, doch Lisbeth wollte weg aus dem Haus, denn auch sie ertrug Papi nur schlecht. Seine Bedingungen waren, dass sie eine eigene Wohnung mieten, Freitagabends für das Wochenende nach Hause kommen müsse. Dies war akzeptabel, vorehelicher Sex war für Lisbeth kein Thema. Die Eltern von Heinz wohnten in Aarau, und so fuhren die beiden per SBB jeder in sein Elternhaus zurück.
1969 liess Papi ein Hallenbad erstellen, dessen Bau die Gelegenheit bot, den bisherigen Heizöltank durch einen von 30'000 Liter Fassungsvermögen zu ersetzen. Der neue Tank bekam eine eigene Bleibe in einer gesicherten Betonwanne. Die Heizungsanlage wurde auf Strom und Holz erweitert, wozu ein riesiger Keller von rund 100m3 gebaut und mit metrigen Holzscheiten und Pellets gefüllt wurde. Diese wurden aber nie verbrannt, und das Holz musste Jahre später wieder mühsam die Rutsche hoch ans Tageslicht gebracht und weggeführt werden. Papi war der Ansicht, damit "einer politisch möglichen oder langfristig unabwendbaren Ölknappheit zu begegnen". Er liess mit dem Hallenbad auch einen sehr grossen und infrastrukturmässig bestens ausgebauten Luftschutzkeller bauen. In einem Nebenraum des Luftschutzkellers hatte es stets mindestens 10 Harasse Mineralwasser, die während 20 Jahren alle drei Monate vom Getränkelieferant ausgetauscht wurden. Papi erhielt von der Gemeinde die Sondergenehmigung, dass dieser Keller im Ernstfall nur für die Familie Pfister bestimmt war und keine Nachbarn mitaufgenommen werden müssten. Nachdem am Samstag und Sonntag das Wasser eingelassen und aufgeheizt worden war, konnte man am Montag, 24. November 1969, erstmals im Indoor-Swimmingpool baden. Am drauffolgenden Samstag wurde das Hallenbad in Anwesenheit der Eltern, von Lisbeth, Heinz Jaggi, Peter sowie Elisabeth Odersky eingeweiht. Im Poolbereich befand sich ein Partyvorraum mit Cheminée, das zum Grillieren einlud. Mami befahl mir, über das Wochenende im Internat zu bleiben, sie bräuchten mein Zimmer. Sehr gerne wäre ich mit dabei gewesen, doch gehörte ich für Mami einfach nicht zum inneren Kreis der Familie. Es hätte mich auch nicht gestört, einmal mehr auf einer Luftmatratze im Schrankzimmer im Keller zu nächtigen. Im Gegensatz zu Lisbeth und Peter war es mir nur sehr selten erlaubt, Freunde zum Baden einzuladen. Stets musste ich Mami fragen, die es mir meistens verbot. Und wenn, dann nur tagsüber. Dagegen feierten meine Geschwister richtiggehende nächtliche Parties, denen ich nicht beiwohnen durfte.
KAPITEL 14
Als ich am 31. Dezember 1969 gegen 18.30 Uhr die Treppe hochging, um mich umzuziehen – wir werden auswärts dinieren –, hörte ich, wie meine Pultschublade zugestossen wurde. Ich trat ein und liess mir nicht anmerken, was ich gehört hatte, schliesslich wollte ich nicht riskieren, zu Hause bleiben zu müssen. Mami äusserte die Verlegenheitsfrage, ob ich ein weisses Hemd hätte. Als sie wieder draussen war, schaute ich nach und bemerkte, dass Mami einen Brief von meiner neuen Freundin, Judith Kühne, gelesen hatte.
Meine Geschwister erlernten das Autofahren in den Jahren 1967 und 1969 mit jeweils 18 Lenzen. Die Auslagen für die theoretische und praktische Vorbereitung und Prüfung wurden von Papi übernommen. Die Herren Wassmer und Stänz von der Möbel Pfister-Garage wurden angewiesen, ein handgeschaltetes Auto zu überführen, und Papi liess es sich nicht nehmen, abends mit Lisbeth und Peter Fahrroutine zu sammeln. Auch hier war es bei mir anders. Ich musste sämtliche Kosten selbst tragen und konnte mir den Luxus des Führerscheins erst im Alter von 21 Jahren leisten – das eigene Auto erst mit 34.
Für meine bevorstehende Konfirmation ging Papi mit Peter und mir im Januar 1970 je einen Mantel kaufen. Erstmals bekam ich einen neuen Mantel. Peter suchte sich seinen selbst aus, und der durfte bedeutend teurer sein als meiner. Was mich nicht verwunderte, war die Tatsache, dass mir Mami zum Voraus gesagt hatte, dass dies mein Weihnachtsgeschenk sei. Peter erhielt zu Weihnachten noch weitere Geschenke von den Eltern.
Am Sonntag, 22. März 1970, wurde ich konfirmiert und erhielt von den Eltern eine adrette Garderobe, bestehend aus grauer Hose, blauem Blazer, weissem Hemd, Krawatte und schwarze Schuhe. Weil dies alles sehr teuer gewesen war, gab's für mich aus verständlichen Gründen zur Konfirmation keine weiteren Geschenke. Bei Peters Konfirmation dagegen bog sich der elterliche Gabentisch unter der Last. Ich bin mir sicher, dass ich nur deshalb neue Sachen bekam und nicht den Konfirmationsanzug von Peter tragen musste, damit man auf Fotos von Peters Konfirmation und meiner nicht sehen konnte, dass ich seine Kleider anhatte.
Am Abend des 12. April 1970 bekam ich von Papi ein Radio für mein Zimmer, den alten schwarzen Kasten, Jahrgang 1948, aus seinem Schlafzimmer, weil er sich ein neues Gerät mit Kassettenteil gekauft hatte. Meine Geschwister hatten schon vor Jahren eine Stereokombination erhalten.
KAPITEL 15
Während meiner Lehre kam ich zu mehr Geld als durch die Schneckensammlerei. Peter durfte stets über den ganzen Lohn verfügen, ich jedoch musste immer einen Teil abgeben, so z.B. vom Erstlehrjahrgehalt von 180 Franken deren 80 Franken, die nachweislich nicht auf meinem Sparkonto landeten. Mami gab mir immer wieder den Ratschlag: "Nimm kein Geld in den Sack, dann kannst du auch keines ausgeben." Ich hatte einigen Nachholbedarf in Punkto Anschaffungen, und Papi hielt mir später vor, dass ich während der Lehre nicht mehr gespart hätte. Peter hatte allerdings weniger auf der hohen Kante als ich, obwohl er viel von dem geschenkt erhielt, was ich mir mit eigenem Geld kaufen musste.
Während der KV-Lehre war es meine Aufgabe, samstags beinahe wöchentlich die Hofeinfahrt und die Besucherparkplätze sowie die lange Strasse entlang unseres Grundstücks mit dem Besen zu kehren. Peter wurde dieser Zwang nie auferlegt. Er half mir freiwillig, wenn er anschliessend etwas mit mir unternehmen wollte. War dies nicht der Fall, lag er lesend auf dem Bett und liess mich diese Pflicht alleine tun.
Ich war das einzige Kind von uns dreien, das nie Nachhilfe- oder Privatstunden beanspruchte oder privaten Musikunterricht nehmen wie Lisbeth am Klavier sowie Peter am Klavier und der Klarinette oder Tanzkurse besuchen durfte. Mami hat mir eingeredet, ich sei unmusikalisch - und ich habe ihr geglaubt. Damit war das Thema vom Tisch. Das Tanzen erlernte ich mit meiner ersten Gemahlin bei der bekannten, sympathischen, äusserst beliebten und charmanten Regina Kempf, vermutlich 1982. Die Ausserrhoderische Journalistin war während 20 Jahren, bis 1990, TV Ansagerin, Moderatorin und Redakteurin des Schweizer Fernsehens DRS.
Wollte Mami mich bei irgendetwas nicht dabei haben, hatte sie stets eine phantasievolle Lüge parat, der von mir nicht widersprochen werden durfte. Sie verkaufte diese Unwahrheiten Papi als Tatsachen, und dieser bestimmte dann, dass ich hier bliebe und noch ein Ämtli zu erledigen hätte, während die anderen auswärts essen gingen oder sonst etwas unternahmen. Was Papi sagte, war sakrosankt. Beim kleinsten Mux von meiner Seite hätte ich mit Schlägen rechnen und oder ohne Nachtessen zu Bett gehen müssen.
Als ich zu Beginn der Lehre in den Boxkeller Aarau gehen wollte, um mit einem Kollegen das Faustgefecht zu erlernen, verbot mir dies Papi mit der Begründung, er wolle keinen Krüppel am Tisch sitzen haben. Ich war ein grosser Bewunderer des einzigartigen Faustkämpfers und der unbestrittenen Boxlegende Muhammad Ali, hatte seit Jahren alle Zeitungsausschnitte gesammelt und fein säuberlich in einem Ordner abgelegt. Um seine Abneigung gegen meine Boxambitionen zu festigen, nahm Papi diesen an sich und vernichtete ihn. Als Zeichen, dass er es wirklich ernst meinte, musste ich kurz darauf feststellen, dass der von Onkel Edy erhaltene Sandsack und die Boxhandschuhe nicht mehr im Keller waren. Entsorgt oder weitergeschenkt.
Zu meinem 16. Geburtstag erhielt ich von Papi seinen defekten Fotoapparat geschenkt, mit der Bemerkung, ich könne diesen sicherlich flicken. Auf dem Fotoapparat war ein steckbarer Viererblitz in Würfelform, der sich nach jedem Bild um ein Viertel drehen sollte. Weder drehte er sich noch gab's einen Blitz. Ich erkundigte mich in Aarau im Fachgeschäft, wo Papi und ich bekannt waren. Man sagte mir, mein Vater habe bereits wegen einer Reparatur nachgefragt, und man habe ihm gesagt, dass das Produkt nicht mehr zu reparieren sei. Dieses Erlebnis fuhr mir dermassen ein, dass ich gar keine Kamera besitzen wollte, und ich habe auch bis ins Handy-Zeitalter nie eine besessen. Papi verleidete mir den Spass an der Fotografie.
Während der Lehre lernte ich im Ausgang José Ruppnig kennen. Wir spielten oft Schach, und er kam gelegentlich zu mir nach Hause. Papi erlaubte mir, sein sehr altes Schachspiel zu benutzen und erhielt es zu meinem 17. Geburtstag geschenkt und besitze es noch heute. Meine Eltern brüsteten sich wiederholt ihrer sehr guten Menschenkenntnisse. Dies hatte sie zur Aussage veranlasst, dass es sich bei dem ein Jahr Älteren um einen integren, höflichen, manierlichen jungen Mann handle, eine ausnehmend erfreuliche Erscheinung an meiner Seite. Sie waren hinsichtlich meines neuen Umganges hoch zufrieden. Als er einige Jahre später in eine finanzielle Unpässlichkeit geriet, fragte ich Mami, ob ich ihm die nachgesuchten 1'000 Franken leihen solle. Sie sagte, er werde mir diesen Betrag ganz sicher zurückzahlen, ansonsten sie dafür aufkommen würde. Ich habe ihn betrieben und erfolglos das Fortsetzungsbegehren gestellt, was ich Mami mitteilte. Als ich sie fragte, ob sie mir den Restbetrag, den er mir schuldete, erstatten würde, wusste sie von nichts mehr. Sie könne sich nicht erinnern, ich müsse sie falsch verstanden haben.
Am 28. Oktober 1970 wurde Papi 50 Jahre alt. Normalerweise feiert man diesen runden Geburtstag ausgelassen mit der Familie und Freunden. Nun könnte ich Papi zitieren: “So man hat.” Er hatte keine Freunde. Also blieb die Feier Mami und uns Kindern vorhehalten.
An Ostern 1971 wurde festlich und in würdigem Rahmen die Verlobung von Lisbeth und Heinz gefeiert. Lisbeth hatte während ihrer Zeit in der Kantonsschule Nachhilfeunterricht benötigt und dabei Heinz Jaggi kennen und lieben gelernt. Papi bedauerte es stets, dass Lisbeth mit diesem akademischen Langweiler liiert war und demungeachtet sogar heiraten wollte. Lisbeth würde die Heirat bald bereuen, schliesslich habe er sehr gute Menschenkenntnisse, wusste er stets zu argumentieren. Papi kam trotzdem für die gesamten Kosten auf.
Papi liess von mir ein graphologisches Gutachten anfertigen. Seit dem 9. Juni 2017 bin ich im Besitz einer Kopie hievon, erstellt von Frau Irene Fehrmann am 30. September 1971. Auszüge hievon: “(…) Schon in seiner Grundsubstanz ist F. uneinheitlich und dadurch beunruhigt. Er lebt in übergrosser Spannung, die er überhaupt nicht bewältigen kann. (…) Die bekannte Protesthaltung der heutigen Jugend wird bei F. durch tiefliegende Unsicherheitsgefühle verstärkt, dann trotz der Erziehung und dem Leben in einer Familie fehlt es dem Jüngling an Lebensvertrauen und dem Gefühl, an einem Ort sicher und verwurzelt zu sein. Er fühlt sich isoliert, weil er in sich selbst nicht das Empfinden für Gemeinschaft und für gegenseitige Bindung hat. (…) Ohne Hilfe eines erfahrenen Jugendfürsorgers wird es sehr schwierig sein, F. die nächsten Jahre auf die Weise zu führen, dass er durchhält. Geduld braucht es von Seiten der Erzieher in sehr hohem Mass, aber auch Strenge ohne zu grosse Härte.”
Auch von meiner ersten Frau Selma liess Papi eine graphologische Studie verfassen. Davon wusste ich bis zu meiner Scheidung 1984 nichts. Dieses Gutachten fiel für Selma weder gut noch vorteilhaft aus. Ich muss allerdings festhalten, dass ich mich dadurch nicht von der Heirat hätte abbringen lassen. Ich vermute stark, dass sich Mami für das Gutachten eines Briefes von Selma an mich bediente.
Auch für Papi war Muhammad Ali der Grösste. Immer standen wir in der Nacht auf, um eine Direktübertragung aus dem Madison Square Garden anzusehen. Für den 26. Dezember 1971 war der Kampf des 29jährigen Muhammad Ali gegen den 28jährigen Jürgen Blin im Hallenstadion Zürich angesagt. Schon Monate im Voraus hatte ich wieder begonnen, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte des bekannten Sportreporters Mario Widmer und weiterer Sportjournalisten zu sammeln. Papi sagte mir im Oktober, dass er und ich den Kampf anschauen gehen würden und dies mein Weihnachtsgeschenk sei. Die Firma Möbel Pfister machte an diesem Abend eine Werbedurchsage - wie auch während vieler Jahre beim Zirkus Knie - und erhielt zwei Gratiseintritte. Plakate oder Reklamen am Boxring waren zu jener Zeit noch nicht üblich. Übrigens auch noch nicht an Muhammad Alis letztem Kampf vom 11. Dezember 1981 auf den Bahamas. Papi wurde zugesagt, dass wir nach der Pressekonferenz zu Muhammad Ali und Jürgen Blin vorgelassen würden und ich ein Autogramm erhalten sollte. Ich hatte eine Riesenfreude und fieberte auf den Anlass hin. Ich sagte jeder Person, wollte sie es hören oder nicht, dass Papi und ich am Boxkampfabend live dabei sein werden.
Bei uns wurde die Bescherung immer am 24. Dezember abgehalten, und erstmals störte es mich nicht, dass ich immer den kleinsten Haufen Geschenke unter dem Christbaum vorfand. Am 25. Dezember stand ich frühmorgens auf und ging in unser Hallenbad schwimmen. Ich konnte seit Tagen nicht mehr richtig schlafen. Als ich nach oben kam, war das Dienstmädchen mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt, und ich war so guter Stimmung, dass ich ihr zur Hand ging und den Tisch deckte. Papi kam aus dem Schlafzimmer die Treppe runter und sagte mir im Esszimmer, wir würden morgen nicht an den Boxkampf gehen, schliesslich sei ich vor drei Wochen unzuverlässig gewesen und dies müsse gesühnt werden. Er habe die beiden Eintritte einer Mitarbeiterin gegeben, sie werde den Kampf mit ihrem boxbegeisterten Freund ansehen, er habe ihr eine riesige Freude bereiten können. Was war vorgefallen? Es war Anfang Dezember gewesen, ich war alleine zu Hause, Mami weilte bei der Kosmetikerin Frau Grieder und traf dann ihre Freundin Frau Burren zu Kaffee und Kuchen im Café Furter in Aarau. Mami hatte mir gesagt, die Firma Amsler würde Kleider aus der chemischen Reinigung bringen, bezahlen müsse ich nichts, es gebe eine monatliche Rechnung. Sie lege zwei Franken auf den Hauseingangstisch, die solle ich dem Chauffeur geben. Ich war in meinem Zimmer. Damit ich die Hausglocke nicht überhören konnte, liess ich die Zimmertür offen. Als Mami nach 17 Uhr zurück kam, war die Lieferung nicht erfolgt. Ich bin mir ganz sicher, dass niemand gekommen war und dass ich die Klingel nicht überhört hatte, zumal der Hund angeschlagen hätte. Ich hatte leider nicht den Mut, der Sache auf den Grund zu gehen und bei der Firma Amsler vorzusprechen. Dies waren für etwa 20 Jahre die letzten Weihnachten, die ich zu Hause mit Eltern und Geschwistern feierte. Meine Vorfreude war immens gewesen, entsprechend riesig die Enttäuschung. Was sollte ich all den vielen Leuten sagen, weshalb ich nicht beim Boxkampf gewesen war? Wieder eine Notlüge.
KAPITEL 16
Papi hatte keine ehrlichen Freunde aus Sympathie. Er war ein armer Mann mit viel Geld, das er zielgerichtet einsetzte, um seine Interessen und Annehmlichkeiten zu wahren, seine Mitmenschen zu manipulieren und in Abhängigkeit zu versetzen. Geld war für ihn Macht. So hielt er die wenigen Menschen, die sich mit ihm einliessen, bei der Stange: Schuldner und Leute, die finanziell abhängig von ihm waren, den Bückling machten und auf Befehl anzutanzen hatten. Oder solche, die ihm hofierten, weil sie sich etwas von ihm erhofften. Er erkaufte sich die "Freunde" mit Darlehen, die ihm dann gewogen zu sein hatten. Einigen ist dies mit der Zeit gehörig auf die Nerven gegangen, und sie haben es bitter bereut, Geld von ihm angenommen zu haben. Das Ehepaar Gustav und Paula Zimmerli von Aarau, eine Bekanntschaft, welche über die Hunde zustande kam. Die zu bemitleidenden Zimmerlis mussten während Jahrzehnten fast jeden Sonntagmorgen zum gemeinsamen Brunch vorbeikommen. Was ihnen zu Beginn noch gut gefiel, wurde eine grässliche Last, Qual und Verpflichtung. Doch Papi war der beste Kunde der Metzgerei und verfügte, dass die weihnachtlichen, überaus grosszügigen Fresspakete für sämtliche Mitarbeiter der Firma Möbel Pfister unter anderen auch von der Metzgerei Zimmerli kamen. Ausserdem finanzierte er dem Ehepaar auch den Ladenumbau. Gusti sagte mir einmal, sie hätten sich kaum getraut, in die Ferien zu verreisen, sondern hätten nur dann einige Tage Urlaub machen können, wenn meine Eltern in Chardonne oder im Ausland weilten – falls sie dann nicht nach unserem Haus sehen mussten. Auch die deutsche Zufallsbekanntschaft Günter und Elise Weiler und noch weitere Menschen haben mir gegenüber geklagt, dass sie stets zu befolgen hatten, was Papi ihnen auftrug. Hans Pengler, der Schwager von Mami, hat oft mit den Zähnen geknirscht, wenn er für Papi Chauffeurdienste ausführen musste, doch er lebte schliesslich fast gratis in einem Haus, das Papi gehörte. Dies verpflichtete. Auch die Eltern von Mami und anschliessend mein Götti hatten bei Papi ihre Darlehen und auch noch weitere Menschen.
Zärtlichkeiten zwischen den Eltern wurden nie ausgetauscht. Ich habe sie nie sich küssen sehen. Eine Berührung des Oberarmes war das Höchste der Gefühle. Körperliche Nähe duldete Mami von Papi und mir nicht, es sei denn, es liesse sich nicht umgehen. Oft haben ich und sicher auch meine Geschwister gesehen, wie er seine rechte Hand während des Essens auf ihre linke legte. Und immer hat sie ihre Hand unter seiner weggezogen. Früher hiess es von Mami stets: "De Bappi hät gseit." Dies galt dann als unumstösslich. Als Mami um 1970 zugetragen wurde, dass Papi im Geschäft gerne an die knackigen Brüste junger Frauen griff, übernahm sie das Ruder in unserer Familie. Bei drei Frauen in der Firma ging der Spruch um: "Es Nötli vom Töpli". Papi, der Herr unseres Hauses, blieb zwar nach aussen hin das Haupt der Familie, aber Mami wurde das Oberhaupt. Sie war ab diesem Zeitpunkt zu Hause die Regierende, hatte die Macht an sich gerissen. Für mich wurde Mami nun zur obersten Respektsperson, schliesslich verkörperte sie nicht nur die Schlüsselgewalt, sondern war die tonangebende und themenbestimmende Person. Mami hatte ausser Frau Burren, die sie vermutlich aus der Ostschweiz kannte, absolut keine Freundinnen. Papi auferlegte ihr ein Stiefmütterchendasein und verbot ihr, am sozialen Leben teilzunehmen und mit anderen Frauen Kontakte oder Freundschaften zu pflegen.
Papi war versessen auf Süsses. Im Geschäft hatte er im rechten Korpus seines Pultes eine Hängeregistraturschublade voll davon. Kein Mittag- oder Abendessen ohne Dessert von der Konditorei, vor dem Fernseher oft zusätzlich eine Schachtel Biskuits. Mami befürchtete immer, er würde wegen seines lasterhaften Übergewichts an Diabetes erkranken oder eine Herz- oder Kreislaufschwäche erleiden und frühzeitig versterben. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Übergewicht ist ein Signal dafür, dass man die Unzufriedenheit mit festen oder flüssigen Ersatzstoffen zu betäuben versucht. (Prof. Max Lüscher) Mami war sehr klein, mollig und auch wenig diszipliniert. Also ging es alle zwei Jahre für vier Wochen nach Überlingen zur Fastenkur. Papi verlor regelmässig an die zehn Kilo. Mami musste sich mit einem, wenn’s hoch kam, mit zweien begnügen und wurde stets fuchsteufelswild, dass Frauen so harzig abnehmen. Zu Hause hielt das Erlernte im richtigen Umgang mit Lebensmitteln nur während zwei, vielleicht drei Wochen an, bis die Eltern wieder in die alten Angewohnheiten zurückfielen. Es war ein Jahrzehnte währender ständiger Teufelskreis.
KAPITEL 17
Papi litt stets unter der von ihm erwarteten Tätigkeit im Hause Möbel Pfister. Oft hörten wir ihn sagen: "Das Leben ist wie eine Hühnerleiter: kurz und verschissen." Verwaltungsratssitzungen mochte Papi nie, da wuchs seine Lust auf Süssigkeiten ins Unermessliche. Er war kein gewandter Redner, was auch im Verwaltungsrat von Möbel Pfister bemängelt wurde. Er hielt nie eine Ansprache vor versammeltem Publikum, führte lediglich Gespräche unter vier Augen. Papi war auch nie im Verwaltungsrat einer anderen Firma tätig, ausser in der von ihm gegründeten Wega Immobilien AG. Er war Tage vor und nach einer Verwaltungsratssitzung missgelaunt und geistesabwesend.
Einmal fuhr Papi auf dem Weg zu einer Verwaltungsratssitzung am Sonnhaldenweg in Unterentfelden einen jungen Radfahrer um. Resultat: Beinbruch und Schürfungen. Der Knabe wurde mitsamt dem lädierten Velo ins Auto verladen und ab zum Arzt. Die Angelegenheit verlief für Papi - trotz Körperverletzung - glimpflich. Die Polizei wurde nicht eingeschaltet, obwohl der behandelnde Arzt in Oberentfelden dazu verpflichtet gewesen wäre. Papi war mit ihm oberflächlich bekannt, und dass ein freiwilliges Schweigegeld geflossen ist, darf als wahrscheinlich angenommen werden. Der Vater des Knaben arbeitete bei Möbel Pfister, ein auch mir bekannter sympathischer, fachkundiger und deshalb erfolgreicher Wohnberater mit guten Verkaufsumsätzen namens - ebenfalls - Amsler. Auch mit ihm wird sich Papi arrangiert haben. Übrigens kannte ich den angefahrenen Amslerjungen, allerdings hatte Papi uns dreien verboten, mit Kindern von Möbel Pfister-Angestellten privat zu verkehren – und ich habe mich mit einer einzigen Ausnahme daran gehalten. Madeleine Müller aus dem Alpenweg in Unterentfelden bildete diesen Einzelfall. Papi verübelte mir dies nicht und telefonierte sogar einmal ihrem Vater, welcher in der Finanzabteilung von Möbel Pfister arbeitete, um zu fragen, ob sie mit uns auf den See kommen dürfe. Sie durfte.
Zu meinem 18. Geburtstag erhielt ich von meinen Eltern einen Handrasierer Gillette Super für 14 Franken und 90 Rappen. Der Preiskleber haftete noch auf der Verpackung.
Es war kurz nach diesem Geburtstag, als ich die Nacht nach einer Party bei einem Mädchen verbrachte. Papi stellte mich zur Rede und liess mich bösen Blickes wissen, dass er meinen Vormund eingeschaltet habe. Das weitere würde ich von diesem erfahren. Tatsächlich kam Herr Fasler am nächsten Tag zur Winterthur-Unfall, meiner Lehrfirma. Wir redeten 1¾ Stunden miteinander in einem Sitzungszimmer. Zwei Tage später kam es erneut zu einem Gespräch mit Herrn Fasler. Jetzt kannte er alle Namen der Personen, die an der Lustbarkeit teilgenommen hatten. Er wusste viele Einzelheiten über mich. Er schimpfte mit mir, dass wir Gruppensex hatten und Christine T. weniger als 16 Jahre alt war. Nach dem Nachtessen kam Papi für eine kurze Unterredung auf mein Zimmer. Er sagte, wenn ich wolle, könne ich gleich gehen. Noch das kleinste Vergehen und ich würde fliegen. Ab sofort hätte ich lediglich einmal in der Woche Ausgang und zwar am Samstag bis Mitternacht. Diese Unterredung dauerte nur einige Sekunden und war eigentlich auch keine, er brüllte einfach seine Warnungen und Befehle heraus.
Als ich Peter mit 18 Jahren zu überragen begann, sagte mir Mami mokant: "Du bist nicht grösser als Peter, nur länger." Wobei man Grösse bekanntermassen nicht in Zentimetern misst.
Im März 1972 beendete Peter seine KV-Lehre mit 21 Jahren, ich ein Jahr danach mit 19. Bereits Wochen vor seiner Lehrabschlussprüfung herrschte eine knisternde Anspannung in unserem Haus. Alles drehte sich um ihn und musste ihm untergeordnet werden. Nach dem Fiasko der beiden nicht bestandenen Kantonsschulprüfungen sorgte Mami an vorderster Front für eine optimale Vorbereitungsatmosphäre. Der Speiseplan und die Essenszeiten wurden von ihm diktiert. Papi wurde von Mami angehalten, seine wohlmeinenden Ratschläge nicht zu äussern; er liess es widerwillig bleiben. Peter hätte zu schäumen begonnen. Auch durfte Peter von seinem Ziel durch keinerlei Zerstreuung abgebracht werden. Ich dachte, ein bisschen Abwechslung könnte ihm in den auferlegten Wochen absoluten Stresses nicht schaden. Mami befand, dass ich falsch gedacht hätte. Auch mein Radio musste bis nach seiner Prüfung verstummen. Die Noten seiner schliesslich doch erfolgreichen Lehrabschlussprüfung wurden mir nie mitgeteilt, meine ihm aber sehr wohl. Peter war sichtlich erleichtert und die Freude der Eltern riesig. Also war bis zum Antritt der Rekrutenschule Mitte Juli eine ausgedehnte Europareise für Peter angesagt. Meine Eltern liessen es sich nicht nehmen, ihn persönlich am ersten Tag der RS in Isone abzuliefern um ihn 17 Wochen später wieder am selben Ort in Empfang zu nehmen und zwischendurch die Besuchstage auszukosten. Mir wurden diese Aufmerksamkeiten nicht zuteil, obwohl Frauenfeld viel näher liegt.
Peter erhielt ungewolltermassen den militärischen Vorschlag. Er sah sich schon als Ordonanzkorporal in einem Gebirgsstollen, was seinem tief sitzenden Freiheitsdrang überhaupt nicht entsprach. Daher auch seine öfteren alleine unternommenen Reisen. Peter trug Papi sein Leid vor, und dieser setzte sich beim Militärdepartement dafür ein, dass Peter nicht weitermachen musste. Der Bund hatte mit der Firma Möbel Pfister AG eine Vereinbarung, wonach eine prozentuale Anzahl Lieferwagen und Anhänger im Generalmobilmachungsfall der Armee zur Verfügung zu stellen hatte. Als ich von meiner militärischen Empfehlung erfuhr, fragte ich Papi, ob er sich beim Bund auch für mich einsetzen würde. Ein Donnerwort erklang: NEIN! Kein weiterer Kommentar und wandte sich wieder der Zeitung zu. Ich musste mich schlau machen und fand heraus, dass Rekruten mit einer Gefängnisstrafe während der RS nicht weitermachen dürfen. Ich habe zehn Tage scharfen Arrest provoziert und mein Ziel drei Tage vor RS-Ende erreicht.
Mami las regelmässig meine losen Tagebuchblätter. Ich hatte leider kein Versteck – und auch nichts vor ihr zu verstecken, denn es waren rein sachliche Eintragungen. Trotzdem: Ein Tagebuch ist vertraulich und persönlich. Dies hat sie nie beachtet. Die Einträge vom 19. bis 24. Juli 1972 hat sie Papi übergeben, und er hat diese auf der Schreibmaschine abgetippt mit dem Titel "Aus Fritzens Tagebuch 25.7.72. hp" und anschliessend Herrn Fasler zukommen lassen. Seit dem 9. Juni 2017 bin ich im Besitz einer Kopie hiervon. Verwunderlicherweise gibt es in den Unterlagen von Herrn Fasler zu den drei Seiten Tagebuch keine Begleitkorrespondenz meines Vaters oder eine Aktennotiz von Herrn Fasler.
Ich weiss nicht, weshalb Lisbeth und Peter im gleichen Jahr je 23’000 Franken in Form von irgendwelchen Wertschriften erhielten. Jedenfalls musste ich bis zur zinslosen Ausgleichung desselben Frankenbetrages zwölf Jahre warten. Gemäss Statistik Schweiz - Der Teuerungsrechner hätte ich eigentlich 39’195 Franken erhalten müssen.
KAPITEL 18
Am 26. August 1972 war die Hochzeit von Lisbeth und Heinz. Selbst noch an diesem Tag, der ihr schönster werden sollte, beschwor Papi seine Tochter, diesen Schritt nicht zu tun, sie könne wieder zu Hause wohnen, bis sie eine neue Bleibe gefunden habe. Dies sagten mir Lisbeth und Heinz wenige Wochen später während eines Besuches bei ihnen. Natürlich übernahm Papi die Kosten des standesgemässen Festes in grosser Gesellschaft. Die Trauung fand in der Staufbergkirche, nahe Lenzburg statt, danach standen eine Bootsfahrt mit wassertriefender Spezialeinlage, eine Kutschenfahrt für alle, ein lukullisches Menü, Pantomime und eine Live-Band auf dem Programm. Einen neuen Citroen GS Break gab's obendrein und vermutlich auch noch eine mittelschwere Banküberweisung für die erste gemeinsame Wohnungseinrichtung in La Tour-de-Peilz. Leider konnte sich Papi nicht durchringen, eine Ansprache zu halten, wie auch nicht bei Peters Hochzeit. Mami bestimmte, dass Jukka, ein bei uns wohnender finnischer Austauschstudent, und ich unsere Freundinnen nicht an der Feier teilhaben lassen durften, weil Peter keine Freundin hatte. Von Elisabeth Odersky hatte er vor längerer Zeit den Laufpass erhalten und war seither single. Peter wollte unter keinen Umständen an der Hochzeit seiner Schwester teilnehmen, und es brauchte während Tagen viel Überredungskunst von Jukka und mir, bis wir ihm sein Einverständnis abgerungen hatten. Er konnte seine Schwester einfach nicht leiden. Ein Umstand, an dem sich auch die nächsten Jahrzehnte nichts änderte.
Wie mir Heinz sagte, hatte er auch in Zürich eine Anstellung offeriert erhalten. Dass in Zürich bedeutend höhere Gehälter bezahlt werden als in der Westschweiz, war Heinz und Lisbeth sehr wohl bewusst, doch Zürich lag ihnen zu nahe bei Unterentfelden, also wählten sie 1972 die Firma Nestlé in Vevey aus einem einzigen, für sie aber sehr wichtigen Grund: so weit wie möglich weg von Papi. Nestlé blieb während 30 Jahren Heinz’ einziger Arbeitgeber.
Es war im Herbst des Jahres 1972, als ich an einen Geburtstag eingeladen war. Ich kam sehr spät nach Hause. Alkohol konsumierte ich während der Lehre noch keinen, ebenfalls keine Zigaretten. Erst beim Militär erlag ich diesen Verlockungen. Papi kam am Sonntag relativ früh und ohne anzuklopfen in mein Zimmer und weckte mich mit lauten Worten. Ich musste mich auf den Bettrand setzen und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Er schrie mich an, wer spät ins Bett gehe, könne auch früh aufstehen und trat mir mit seinen an der Fussspitze verstärkten Pantoffeln mehrfach ans Schienbein. Die Hämatome verschwanden erst nach Monaten. Ich war mittlerweile mehr als 18 Jahre alt und verfügte noch immer über keinen Zimmerschlüssel – auch in Zukunft nie.
Weil zwei Kameraden und ich in der KV-Lehre wiederholt die Schule nicht besuchten, die Zeit mit Girls verlustierten und die Unterschrift der Eltern auf den Absenzformularen fälschten, musste der mir wohlgesonnene Lehrlingschef der Winterthur-Unfall, Herr Willi Meier, mit meinen Eltern reden. Ich durfte ihn kurz vor Weihnachten 1972 zu einem Abendessen nach Hause einladen. Es gab eine teilweise emotionale Auseinandersetzung zwischen den Eltern und mir. Am nächsten Tag, abends von der Schule nach Hause kommend, stand ein gepackter Koffer im Entrée. Mami sagte mir, Peter werde mich nach Aarau fahren, es gebe für mich keinen Platz mehr in diesem Haus. Peter fuhr mich mit grossem Bedauern und Mitleid nach Aarau zum Hotel Les Quatre Saisons in der Nähe des Bahnhofs. Als ich diese Begebenheit Herrn Meier mitteilte, verstand er die Welt nicht mehr. Eine solche Tat zu diesem Zeitpunkt! Er meinte, dass die Aussprache vor zwei Tagen offen, wenn auch nicht immer sachlich und gemässigt verlaufen sei; er habe jedenfalls ein gutes Gefühl bezüglich der Besprechung gehabt, als er sich auf den Heimweg gemacht habe. Übrigens habe er meine Eltern nach 2¾ Jahren Lehrzeit erstmals gesehen und zuvor auch nie mit ihnen telefoniert. Herr Meier war spontan bereit, mich über Weihnachten mit seiner Familie nach Braunwald mitzunehmen. Der Notiz eines Telefonats zwischen Herrn Fasler und Papi entnehme ich: "Es sei fertig, er könne Fritz nicht mehr behalten, auch der Name müsse geändert werden usw. usw." Einer Telefonnotiz von Herrn Fasler mit Herrn Meier entnehme ich: "Hat von Pfister sen. gleiche Meinung, Fritz sollte weg. (…) Ferner wird er [Hr. Meier] mit seiner Frau sprechen, ob Fritz zu ihnen kommen oder in Bekanntschaft eine Lösung möglich wäre."
Ab 3. Januar 1973 hatte ich ein Zimmer im CVJM-Lehrlingshaus (Christlicher Verein Junger Männer) an der Tannwaldstr. 50 in Olten. Die Kosten für vier Monate Lehrlingshaus betrugen 1'600 Franken und wurden meinem Konto beim Schweizerischen Bankverein belastet, wie auch die gesamten Spesen meines Vormundes Herrn Fasler. Über die Wochenenden war das Lehrlingshaus geschlossen, und ich durfte zu der liebevollen Familie Hartmann mit zwei kleineren Kindern in der Friedensstrasse in Olten ausweichen. Auch diese Kosten gingen zu meinen Lasten. Die Lehrabschlussprüfung im Frühling 1973 bestand ich "nach einem kritischen Schlussteil", wie Herr Fasler schrieb, trotz dieser schmerzhaften Wegweisung.
Am 22. Februar 1973 besuchte ich meinen Vormund Herrn Fasler im Büro und fragte ihn, ob ich zum Abschluss der KV-Lehre vom 4. - 7. April an der von meinem KV-Kollegen Max Lüscher organisierten Reise nach Budapest teilnehmen dürfe? Kostenpunkt 303 Franken, die ich übernehmen würde. Hiezu bräuchte ich jedoch einen Pass, da ich nie einen besessen hatte. Herr Fasler war einverstanden. Am 23. Februar 1973 schrieb er an das Passbüro Aarau und erklärte sein Einverständnis, dass für mich "ein Pass ausgefertigt und ausgehändigt wird". Offensichtlich hatte er sich danach mit Mami oder Papi kurzgeschlossen, jedenfalls telefonierte er mit Max Lüscher und bestätigte das Telefonat schriftlich, beides am 9. März 1973: "Sehr geehrter Herr Lüscher, wir teilen Ihnen mit, dass Fritz Pfister an der geplanten Reise nach Budapest nicht teilnehmen kann. Deshalb bitten wir Sie höflich, die bereits geleistete Vorauszahlung (…)"
Es muss in dieser Zeit gewesen sein, als ich im Ausgang die 19jährige Brigitte P. aus Weinfelden und die 20jährige Patrizia B. aus St. Gallen kennenlernte und mir die beiden die Wäsche besorgten. Sie waren Arztgehilfinnen (heute MPA) bei Dr. Borkowski in Oberentfelden und wohnten auch in seinem Haus mit Praxis. Wie bereits erwähnt, hatte Peter längere Zeit keine Freundin. Ein ladies man war Peter nie. Er hatte kaum Chancen beim weiblichen Geschlecht. Seine wenig charmante, eigenwillige, aufbrausende, egoistische Art mochte die Damenwelt nun mal nicht. Er war und ist bis zum heutigen Tag ein nervöses Kind mit hysterischer Neigung. Aus Mitleid und weil ich ihn trotz all seiner Schwächen - oder vielleicht erst recht deswegen - sehr mochte, verkuppelte ich ihn im Frühling 1973 mit Brigitte P., meiner liebgewonnen platonischen Freundin.
Vom 1. Mai bis 31. Juli 1973 hatte ich ein Dachzimmer bei einer ganz entzückenden älteren, verwitweten Schlummermutter an der Solothurnerstrasse 184 in Olten. Peter durfte seine Freundin nicht über Nacht ins Elternhaus nehmen, also mussten die beiden jeweils in ein Hotel gehen, um die Sexwünsche auszuleben. Da ich öfters bei meiner Freundin nächtigte, fragte mich mein Bruder, ob er den Schlüssel für den kommenden Samstag haben dürfe, damit sie in meinem Zimmer vögeln könnten. Peter sagte mir am nächsten Tag, als er mir den Schlüssel zurückgab, Brigitte habe in der letzten Nacht die Periode gekriegt, und das Leintuch sei blutig. Als ich am Abend ins Zimmer kam, sah ich einen grossen Blutfleck auf dem Bettlaken und der Matratze. Für mich war eine Nacht auf dem Fussboden angesagt. Meine Schlummermutter, die Montag bis Freitag das Bett machte und das Zimmer reinigte, sorgte für eine andere Matratze, bezog diese mit sauberem Betttuch und hat mir gegenüber nie ein vorwurfsvolles Wort geäussert oder das Frauenbesuchverbot erwähnt.
Als ich meine KV-Lehre am 31.März 1973 abschloss, war nicht an Reisen zu denken, bis meine Rekrutenschule am 16. Juli begann. Ich trat sofort bei der Basis Watch in Tecknau meine Stelle zu Arbeit und Lohn an. Wegen des auf das Folgejahr geplanten Englandaufenthalts hatte ich ein bewilligtes Gesuch geschrieben, die Rekrutenschule ein Jahr vorzuverlegen, und absolvierte diese in Frauenfeld. Aus dem Kreis der Familien Pfister und Boltshauser wurde ich von Mami ab etwa 16 Jahren mit grösstem Erfolg ferngehalten. So wurde ich beispielsweise von ihr angehalten, mit Gotte, Götti und meinen Onkeln und Tanten aus dem Raum Weinfelden während meiner Rekrutenschule keinen Kontakt aufzunehmen. Ich solle sie nicht belästigen, sie seien unter der Woche überbeschäftigt. Mami musste nie mit der Hand auf den Tisch schlagen oder die Stimme erheben. Was sie sagte, war abschliessend und hatte für mich eine unumstössliche Gültigkeit. Ich habe zu jener Zeit ihre dahinter steckende Absicht nicht realisiert. Erst heute nach der intensiven Beschäftigung mit meiner Vergangenheit, wurde mir dies bewusst. Idiotischerweise - ich verwende diesen Kraftausdruck nicht leichtfertig - habe ich mich tatsächlich daran gehalten, obwohl ich mehrere Personen aus unserer Verwandtschaft wirklich gut mochte – und diese auch mich. Ich war immer gerne und oft bei drei von vier Geschwistern von Mami, nämlich Gotte, Götti und Tante Marie, in den Ferien, während meine Eltern und Geschwister in den USA oder Kanada Ferien machten. Meine lieben Verwandten haben meine Nichtkontaktaufnahme bestimmt zur Kenntnis genommen und sich etwas Falsches dabei gedacht. Ich muss zu jener Sturm- und Drangzeit zu oberflächlich und gleichgültig gewesen sein, so dass ich diese Anweisung nicht hinterfragte. Dadurch entging mir vielleicht auch das eine oder andere Fresspaket. Von den Eltern gab’s jedenfalls nie etwas zwischen die Zähne. Von Peter erfuhr ich, dass er während seiner RS-Zeit mehrere grosse Pakete direkt vom Usego-Laden erhalten hatte. Dasselbe passierte mir Jahre später auch mit Mamis Instruktion Tante Emmie betreffend. (Emmie Oprecht betrieb in Zürich an der Rämistrasse 5 eine überaus bekannte Buchhandlung.) Heute weiss ich auch, weshalb mir der Kontakt mit ihr untersagt wurde: Ich hätte sicherlich Interna erfahren, die ich nach Mamis Meinung nicht wissen sollte und durfte. Dadurch entgingen mir viel Wissenswertes, willkommene Bereicherungen aus der Familie Pfister, aber auch zwischenmenschliche Kontakte – und vielleicht auch das eine oder andere Fresspaket. Von den Eltern gab's jedenfalls nie etwas zwischen die Zähne. Von Peter erfuhr ich, dass er während seiner RS-Zeit mehrere grosse Pakete direkt vom Usego-Laden erhalten hatte.
Der verhasste, stoffige, fleckige Wäschesack wurde wieder zum Vorschein gebracht und hin und her geschickt. An freien Wochenenden konnte ich die Wäsche im Effektensack nach Hause tragen. Es wurde mir erlaubt, für die Zeit des Militärdienstes – und danach bis zur Abreise nach London im Januar 1974 – wieder zu Hause zu wohnen.
KAPITEL 19
Kurz vor meinem Englandaufenthalt sagte Papi zu mir, ich sei nun bald 20 Jahre alt, und er wolle mich in das Restaurant Chez Jeannette in Aarau zu einem Gespräch unter Männern einladen. Er habe dies mit Peter auch getan – so wie bereits sein Vater mit seinen Söhnen. Mami wusste dies jedoch zu verhindern. Ich bin heute ganz sicher, dass es sie beängstigte, er könnte mir mehr berichten, als ihr lieb sein konnte und wollte. Papi war unter vier Augen eher mitteilsam.
Für London musste ich Papi ein genaues und mehrfach nach unten überarbeitetes Budget vorlegen. Ich bekam so wenig Taschengeld (erstmals in meinem Leben), dass kaum Geld für Kino, Theater, Konzerte oder andere kulturelle Veranstaltungen übrig blieb. London hat so wundervolle, einzigartige Pubs; ich habe keine zehn von innen gesehen. Papi meinte, ich solle mich auf die Vertiefung der englischen Sprache konzentrieren und mich nicht von Unwesentlichem, Vergänglichem ablenken lassen. Jede Budgetposition musste detailliert begründet werden. Obwohl ich mich auf ein Minimum beschränkte, fand Papi da und dort immer noch ein £, das in seinen Augen unnötig war. Und zum wiederholten Mal hörte ich seine Leier, dass ich auch in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie hätte aufwachsen können. Es sei nie zu früh, das Verzichten zu lernen. Ich fragte Peter, ob er Papi auch ein Budget habe vorlegen müssen. Er lächelte mich höhnisch an und fragte sarkastisch, boshaft-ironisch: Was ist das?
Schulausflüge in London hatte ich im Budget nicht berücksichtigt und konnte deshalb nur an einem einzigen teilnehmen. Wir besuchten zum 765-Jahr-Jubiläum die riesige University of Cambridge mit ihren 29 Lehrinstituten. Die immense Bibliothek hat bei mir grössten Eindruck hinterlassen. Als Peter neun Jahre später für drei Jahre nach Kanada ging, um sein Studium fortzusetzen, teilte er Papi einen grob geschätzten Pauschalbetrag mit. Die beiden gingen zum Schweizerischen Bankverein in Aarau, und schon hatte Peter das gesamte Geld auf seinem Konto. Auch für Studiumsunterbrüche und ausgiebige Reisen reichte es.
Wenige Tage vor meinem Abreisedatum nach London teilte mir Mami mit, ich dürfe nicht - wie Lisbeth 1969 und Peter 1973 - das Flugzeug nehmen. Die günstigere Variante Zug täte es für mich. Keine Begründung, kein Kommentar, einfach die Mitteilung einer Tatsache. Schluss, Aus, Themawechsel. Ich hatte mich monatelang bübisch auf meinen Erstflug gefreut und davon herumerzählt. Erinnerungen an den Ali-Boxkampf von 1971 wurden wach. Wiederum war ich in Erklärungsnot. Im Januar 1974 ging's schliesslich für zehn Monate nach London, und ich wohnte - wie Peter ein Jahr zuvor - bei derselben Gastfamilie, der grossartigen Landlady und dem wunderbaren Landlord und gewonnenen väterlichen Freund Mr. Draxler an der Grand Avenue 36 in Muswell Hill. Mr. Draxler war ein überlegter, ruhiger, geduldiger Mensch. Er und seine Frau hatten eine überaus warme Ausstrahlung und ein ehrliches, liebevolles, von Achtung geprägtes Verhältnis, das ich schlichtweg nur bewundern konnte. Ich erlebte eine freudige, aussergewöhnliche, einfach grandiose Zeit bei den Draxlers und in der Stadt London. Die schönste meines Lebens. Obwohl sie zwei erwachsene Söhne mit Familien hatten, behandelten sie mich wie ihren dritten Sohn. Ich war darob sehr erstaunt und hoch erfreut. Ich wurde auf eine Art aufgenommen, die mich tief berührte. Es war für mich lustig anzuhören, wenn sie das Telefon abnahmen. Sie meldeten sich nicht mit Namen, sondern mit der Telefonnummer 883 88 00. Rasend schnell klang dies phonetisch: eit-eit-thri-doble-eit-doble-ou. Mr. Draxler, der hingebungsvoll und kunstfertig seine filterlosen Zigaretten drehte, sagte mir des öfteren, dass ich viel aufgeschlossener und zugänglicher sei als mein verschlossener, eigenbrötlerischer Bruder und auch mehr von meinen in London geschlossenen Freundschaften erzähle, als Peter dies je getan habe. An Wochenenden sei dieser kaum weggegangen, habe stattdessen verschiedenste Automobil- und andere Zeitschriften gelesen, oft sogar mehrfach, und habe nächtelang ferngesehen. Wenn ich mich jeweils für den Ausgang abmeldete, so sagte Mr. Draxler hin und wieder schmunzelnd zu mir: "Don't do anything you shouldn't do; if you do it anyway, do it properly." Nachdem ich wieder in die Schweiz zurückgekehrt war, korrespondierte ich noch Jahre mit Mrs. Draxler und besuchte die beiden einige Jahre später mit Selma. Mr. Draxler drückte mich mit seinen kräftigen Armen wohltuend an seine stählerne Brust, während Mrs. Draxler das Taschentuch dringend nötig hatte. Im Gegensatz zu Lisbeth und Peter wurde ich von unseren Eltern in England nicht besucht. Zu meinem bedeutsamen 20. Geburtstag, der Volljährigkeit zu jener Zeit, kam von ihnen keine Karte, kein Brief, kein Geschenk – schlicht nichts. Es wurde von meinen Eltern erwartet, dass ich ihnen alle zwei, spätestens drei Wochen einen Brief schreibe. Ich habe mich daran gehalten und ihnen jeweils einen unterhaltsamen orientierenden Brief geschrieben, erhielt von Mami in der ganzen Zeit lediglich deren drei. Ich besuchte die vielen Museen, deren Eintritt gratis war, und realisierte dabei, dass diese überwiegend vom weiblichen Geschlecht frequentiert wurden, wobei ich viele, meist zehn oder mehr Jahre ältere Damen kennenlernte. Oder ich schlenderte ohne Geld im Sack aber mit etwas essbarem, trinkbarem und lesbarem durch die einmalig schönen, stets gepflegten Londoner Parks. Ich las viel, machte Bekanntschaften mit Frauen oder bewunderte von aussen die vielen geschichtsträchtigen Bauten, von denen es in London unendlich viele gibt. Ich lebte in einem himmlischen Paradies auf Erden. Es war in einem dieser Stadtgarten, wo ich meine spätere Ehefrau Selma kennenlernte. Schnell hatten wir uns ineinander verliebt und auch mit wenig Geld verbrachten wir eine tolle Zeit. Wir sprachen viel über englische Literatur, aber auch über die russischen Autoren. Während Peter nach dem Fremdsprachenaufenthalt in London seiner Reiserei freien Lauf lassen durfte, musste ich nach Erreichen zweier Diplome monatelang unentgeltlich bei einem Möbel Pfister-Lieferanten, der Charles Hoffner Ltd. modern furniture, arbeiten und durfte viel Praktisches lernen. Papis Devise für mich: Ich solle aus den Erfahrungen Anderer lernen, die seien kostbar, die eigenen dagegen vorwiegend kostspielig.
Am 11. November 1974 war Mamis 55. Geburtstag, und ich wollte am Samstag, 9. November, die Zugreise nach Hause antreten. Mami schrieb mir postwendend in ihrem letzten Brief nach London, ich solle am Samstag, 23. November heimkommen. Einmal mehr ein schmerzender Beweis, dass ich nicht zur Familie gehörte.
KAPITEL 20
Nach ihrer Hochzeit wohnten Lisbeth und Heinz für eine gewisse Zeit in einer schmucken Wohnung in La Tour-de-Peilz. Dann ging's noch ein bisschen weiter weg vom nervigen Papi: nach Chicago zur Nestlé-Tochter Libby. Dort lebten sie "in einem schönen Apartment nahe beim See", wie mir Mami am 24. Mai 1975 schrieb, als sich die Eltern besuchshalber vor Ort aufhielten. Lisbeth und Heinz kehrten nach eineinhalb Jahren wieder in die Schweiz zurück und bezogen in Chardonne, am Chemin des Roches, eine Wohnung. Die Geburt der ersten Tochter zog sich sechs lange Jahre hin, und Papi schmunzelte jeweils spöttisch, wenn Mami uns beim 15 Uhr-Sonntagskaffee zu berichten wusste, dass Lisbeth noch immer nicht guter Hoffnung sei. Bei der nächsten Gelegenheit, als Mami den Raum verlassen hatte, sagte Papi, der Langweiler sei wohl beim Zeugungsakt eingeschlafen. Mami und er hätten im Mai 1948 geheiratet und schon im Mai 1949 den ersten Nachwuchs präsentiert. 1980 wurde im Vierfamilienhaus, wo Lisbeth und Heinz zur Miete wohnten, eine Wohnung frei. Papi hat diese während mehr als zehn Jahren gemietet; pro Jahr haben unsere Eltern dort jedoch nur einige wenige Wochen verbracht. Wenn sie nicht zugegen waren, durfte Lisbeth diese Wohnung nach eigenem Gutdünken benutzen und darüber verfügen. Wenn ich alleine oder in Begleitung meine Schwester und ihre Familie besuchte, habe ich nie in dieser Wohnung übernachtet, sondern immer in Montreux ein Hotelzimmer gebucht. Erstens wollte ich meine Eltern nicht um Erlaubnis bitten müssen, denn dies wäre ganz bestimmt von ihnen erwartet worden, und zweitens lag es mir fern, Lisbeth mit benutzter Frottier- und Bettwäsche zur Last zu fallen. Am nächsten Morgen habe ich auf dem Weg zu ihnen stets in der Dorfbäckerei von Max frische Gipfeli, Brote und gebackene Süssigkeiten in grosser Menge eingekauft. Bis zum zweiten Mädchen dauerte es bei Lisbeth auch wieder länger als gewünscht, nämlich fünf Jahre. Papi wusste sich zu brüsten, er habe immerhin einen Knaben geschafft.
Obwohl Lisbeth, Heinz, Muriel und Joëlle mit dem "kargen" Lohn von Heinz auskommen mussten, wie mir Lisbeth vorjammerte, war sie nach der Hochzeit nie berufstätig gewesen, hat also in den Jahren vor und nach der Geburt ihrer Kinder nie etwas zum Lebensunterhalt beigetragen. Es darf davon ausgegangen werden, dass Papi immer wieder mal finanziell einsprang. Lisbeth musste sich mit einem Töpferatelier mit Verkaufsladen selbst verwirklichen, doch generierte sie kaum Umsatz. Es resultierten vor allem Kosten, wie Heinz gegenüber Papi klagte und dieser mir später in seiner typischen, sich lustig machenden Weise erzählte.
Bei der intensiven Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit fällt mir auf, dass Papi eine grosse Ironie entwickelte, wenn es bei anderen Menschen nicht so lief wie erwünscht. Er amüsierte sich gern auf Kosten anderer und zelebrierte das, was man Schadenfreude nennt. Er hatte auch eine ziemlich sarkastische Ader. So zum Beispiel, als Adolf Märki aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen bei Möbel Pfister entlassen wurde. Er machte sich selbständig und gründete im Jahre 1963 die Möbel Märki AG in Hunzenschwil. Er fuhr gerne schnelle Autos und hatte mehrere zum Teil schwere Unfälle mit körperlichen Folgen. Papi liess sich zum Satz verleiten: "Nur ein toter Märki ist ein guter Märki."
Mit einem ebenso labilen wie reizbaren Nervensystem ausgestattet, neigte Peter schon seit jeher zu Jähzorn und Wutgetrampel über jede noch so alberne Kleinigkeit. Er wurde unausstehlich, wenn etwas nur im Geringsten von seiner Linie abwich. Kompromissbereit war er nie. Sturheit bis zum Letzten. Er war gegenüber den Eltern undiplomatisch und rücksichtslos, eigentlich eine grundsätzliche Zumutung. Aber er war nun mal Mamis sorgenreicher Liebling, und das wog schwer. Später arteten Peters Macken aus, und er wurde zum schwallhaften Drein- und Dauerredner. Zuhören konnte er nicht, da war er wie sein Vater. Es gab nur eine Meinung, und das war seine. Weder Papi noch Peter waren je zu einer Diskussion oder einem Streitgespräch bereit gewesen. Ihre Ansichten wurden geäussert und Schluss. Widerrede wurde nicht geduldet. Darauf waren sie nicht vorbereitet und deshalb machtlos. Stets ONE WAY, HIS WAY. Peter war eben ganz der Vater. Der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm. Hatte er gesprochen, so hörte er nicht zu, was sein Gegenüber erwiderte; er war bereits mit weiteren Argumenten beschäftigt, um seine einseitigen Thesen zu stützen.
Peter eiferte dem Arbeitgeber seiner Freundin Brigitte P. in der Person von Dr. med. A. Borkowski nach und wollte auch Arzt werden. Vor den Maturitätsanstrengungen weilte er 1974 in den USA. Der Aufenthalt diente keiner zielgerichteten Ausbildung, mehr seiner Zerstreuung.
Von 1975 bis 1980 holte Peter bei der AKAD - mit weltreisenden Unterbrüchen - auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach und wohnte aus praktischen Gründen gleich neben dem Schulgebäude in Zürich-Seebach, denn er benötigte viel privaten Unterricht. Alles, inkl. aufwendigem Lebensunterhalt, finanzierte Papi – auf Anweisung von Mami – widerwillig. Wenn unser Vater im Hause noch das Sagen gehabt hätte, hätte er ganz anders reagiert und kein medizinisches Studium finanziert. Er war grundsätzlich gegen alle Akademiker.
Zu Beginn des Jahres 1976 erhielt Selma, die ich zwei Jahre zuvor in London kennengelernt hatte und die mich öfters in der Schweiz für kürzere und längere Aufenthalte besuchte, von der Londoner Ausländerbehörde die erschreckende Nachricht, dass sie nach 30 Tagen das Land verlassen haben müsse, weil sie beim letzten Besuch bei mir die Rückkehrfrist verpasst hatte. Es gab kein Pardon, und sie bat ihren Vater um ein Flugbillet nach dem südafrikanischen Johannesburg, mit Zwischenhalt in der Schweiz. Ihre Eltern waren indischer Abstammung und ihr Vater besass und betrieb in Lichtenburg ein grösseres Warenhaus. Sie kam also zu mir und hätte die Schweiz nach drei Monaten wieder verlassen müssen. Wir besprachen ihre und unsere gemeinsame Situation in grosser Verliebtheit und waren uns einig, dass wir das Risiko eingehen sollten und heiraten wollten. Ich ging an einem Samstagmorgen absichtlich alleine zu meinen Eltern, um sie über unsere Heiratsabsichten zu informieren. Alleine ging ich deshalb hin, weil ich mit Widerstand rechnete und davon ausging, dass meine Eltern auf mich einreden und mir unser Vorhaben auszureden versuchen würden. Ich begrüsste sie im Hauseingang, Papi hatte schon seinen Mantel an, und sagte zu ihnen: "Selma und ich werden heiraten." Papi sagte teilnahmslos: "Und ich gehe jetzt einkaufen."
Am Freitag, 14. Mai 1976, heirateten Selma und ich. Am Morgen desselben Tages waren wir mit Mami noch immer im Clinch darüber, ob die Eltern uns den teuren Staubsauger zur Hochzeit schenken wollten. Eine Woche später verfügte Mami, dass wir uns den Staubsauger für 279 Franken kaufen dürften. Ohne Seitenhieb ging's natürlich nicht ab. Die 13 Franken für Ersatzstaubbeutel wollte Mami partout nicht übernehmen. Meine Geschwister fanden das Geschenk nicht etwa ein bisschen bescheiden und haben sich nicht für uns eingesetzt, obwohl sie sich hervorragend mit Selma verstanden und sie ins Herz geschlossen hatten. Peter und Brigitte P. waren unsere Trauzeugen. Beide Eltern fehlten bei diesem Anlass, Lisbeth und Heinz weilten noch in Chicago. Selma und ich hatten selbst für ein bescheidenes Fest mit unseren wichtigsten Freunden zu wenig Geld. Meine scheuen Erkundigungen bei Mami in der Küche und bei Papi im Wohnzimmer, ob sie sich an den Kosten beteiligen würden, wurden abschlägig beantwortet. Ich kann mich der Worte nicht mehr erinnern, aber mir ist geblieben, dass von beiden ähnlich argumentiert wurde; also müssen sie sich hierüber vorgängig abgesprochen haben. Ich habe es wenig später nochmals bei Papi versucht und erhielt die Antwort es sei nicht der Auftrag der Pflegeeltern für die Auslagen der Heirat eines Zöglings aufzukommen. Kurz nach der Hochzeit rechnete Papi uns vor, bis wann wir spätestens Kinder haben sollten; irgendwann seien er und Mami zu alt für Enkelkinder. Papi war zu jenem Zeitpunkt 56 und Mami 57 Jahre alt.
KAPITEL 21
In den Jahren 1976 bis 1979 wohnten Selma und ich in Gränichen. Zuerst im gleichen Gebäude, wo ich zuvor eine Einzimmerwohnung hatte, in einer Zweizimmerwohnung neben dem Restaurant Bad und anschliessend in einer Dreizimmerwohnung, erstmals mit Balkon, oberhalb der Allgemeinen Aargauischen Ersparniskasse, meinem Arbeitgeber von 1975 bis 1978. Obwohl Papi seit 1950 Bauland in Gränichen besass, hat er Selma und mir gegenüber dieses Grundstück nie erwähnt. Ich erfuhr erst in den 1990er Jahren davon, gesehen habe ich es nie. Auch nur en passant erfuhr ich, dass Papi in Prince George, Alberta, Kanada, die Pfister Enterprises gegründet, sich an einem Shopping Center beteiligt und über 100'000m2 Land gekauft hatte. Er soll für einen Quadratmeter weniger als in Unterentfelden bezahlt haben. Lisbeth und Peter waren hierüber seit Anbeginn genauestens informiert. Sollte in Europa wieder ein Krieg ausbrechen – und hiervon war Papi bis 1989 zwingend überzeugt –, hätten wir in Prince George dank dieser Investitionen einen Zufluchtsort gehabt. In den 1990er Jahren soll er das Land für ein Zwanzigfaches verkauft haben. Nebenan wurden umfangreiche Ölvorkommen entdeckt, und es wurde eine Stadt für mehrere zehntausend Einwohner gebaut. Das von meinen Eltern in Buchs in den Jahren 1948-1951 bewohnte Haus wurde mir weder von aussen gezeigt, noch die Adresse bekanntgegeben. Auch nicht, ob es gemietet oder gekauft war.
Zu meinem Geburtstag am 25. August 1977 wünschte ich mir von den Eltern eine lederne Tasche; es gab sie noch 42 Jahre später. Ich ging sie mit Selma aussuchen. Sie war etwas teuer, 148 Franken, und Mami war schockiert. Es wurde Oktober, bis sich Mami und meine Frau über die Aufteilung der Kosten einigen konnten. Mami steuerte 100 Franken bei, Selma musste 48 Franken tragen.
Von meinen Eltern wurde erwartet, dass wir ihnen alle zwei oder drei Wochen sonntags einen Besuch zu Kaffee und Kuchen abstatteten. Dorthin gingen wir oft zu Fuss und am Abend fast immer auch per pedes wieder zurück, um die Tramkosten zu sparen, denn es ging uns finanziell schlecht. Papi hatte Selma angeraten, die Dolmetscherschule in Zürich zu besuchen, um ein gutes Deutsch zu erlernen. Die Kosten trugen wir selbst bis zur Aufnahme meines Studiums an der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule (HWV), ebenfalls in Zürich. Danach unterstützte uns Papi mit monatlich 1'500 Franken, aufgrund eines stark zusammengestrichenen, gestauchten Budgets. Einmal ging Papi mit uns in den Vorratskeller, suchte unter den Konservendosen diejenigen heraus, die einen gewölbten Deckel hatten, und gab sie uns. Jede Hausfrau und sicherlich auch Papi musste wissen, dass diese Nahrungsmittel verdorben und zum Verzehr nicht mehr geeignet sind. Wir haben uns ob dieser "grosszügigen" Geste erwartungsgemäss bei ihm bedankt. Zu Hause warfen wir die Dosen sofort in den Kehricht.
Am 14. März 1978 verkaufte mir Papi die übrig gebliebenen Peseten seines Spanienbesuchs: 2'528 Ptas zum Kurs von 2.30 = 58 Franken und 15 Rappen. Obwohl Selma und ich am Existenzminimum, oder eher noch darunter, lebten (Selma erhielt keine Unterstützung von ihren Eltern, denn sie hatte einen Christen geheiratet), war das kein Geschenk für unsere ersten anstehenden Ferien auf Mallorca. Aus Geldknappheit wurde daraus nichts. Erst drei Jahre später- nach Beendigung meines Studiums - konnte ich bei Hotelplan Ferien auf Mallorca buchen. Dies waren im Alter von 27 Jahren meine ersten Auslandsferien als Erwachsener und mein erster Flug.
Im Hinblick auf ein Studium an der HWV absolvierte ich 1978 einen Eignungs- und Intelligenztest. Von 8 - 12 und 13 - 17 Uhr bewältigte ich mehrere Prüfungen. Der Experte (Dr. Halder) war am Ende des Tages überrascht, wie frisch ich noch wirke. Die umfangreiche Auswertung ergab, dass 1% der Schweizer Bevölkerung intelligenter, 1% gleich intelligent und 98% weniger intelligent als ich seien. Ich nahm diese Neuigkeit überrascht und hoch erfreut zur Kenntnis und war überzeugt, dass Papi meine weitere Ausbildung finanziell unterstützen würde. Er konnte bei diesem Glanzresultat auch schlecht nein sagen.
Für unsere Studien wollten Selma und ich nach Zürich zügeln. Die höhere Wohnungsmiete hätten wir uns mit den von ihr erteilten Privatstunden in Englischer Sprache und meinen Nachhilfestunden für KV-Lehrlinge in den Fächern Buchhaltung und kaufmännisches Rechnen leisten können. Wir hätten einiges an Zeit und Kosten für die Benutzung des öffentlichen Verkehrs gespart. Ich fragte Papi, ob er zu meinem 24. Geburtstag veranlassen würde, dass die Lieferleute von Möbel Pfister Suhr im Nachbardorf Gränichen einen Zwischenhalt einlegen und unsere wenigen Möbel nach Zürich transportieren könnten. Er sagte mir, wir sollten ein weiteres Jahr in Gränichen wohnen bleiben. Nächstes Jahr würde er mir dieses Geschenk machen, falls wir dann noch immer die Schulen in Zürich besuchten. Ein Jahr später fanden wir eine preisgünstige Wohnung an der Köchlistr. 6 im Zürcher Kreis Cheib im 3. Stock ohne Lift. Ein Geschoss über dem Ehepaar Baumstark, denen der ganze Block gehörte. Ausnehmend liebe Leute, mit denen wir intensiven Kontakt pflegten. Obwohl ich bereits 25 Jahre alt war, wollte Papi dieses Paar aus mir unerklärlichen Gründen unbedingt kennenlernen, also waren meine Eltern bei der Mietvertragsunterzeichnung mit dabei. Der Umzug unserer Minimalwohnungseinrichtung erfolgte nicht, wie von Papi versprochen, durch Möbel Pfister, sondern durch den Vater meines ältesten Göttibuben, Beny Schröder. Ich konnte ihm nach Abschluss des Umzugs nur 50 Franken für Mietauto, Benzin und seine Zeit in die Hand drücken. Begeisterung sieht anders aus. Doch ich habe meine Schuldigkeit später zigfach wettgemacht. Im Parterre war und ist noch immer das Restaurant Köchlistube domiziliert. Wir waren während unserer Studentenzeit genau ein einziges Mal für ein Getränk in diesem Lokal – nicht dass es uns missfallen hätte, im Gegenteil, aber wir konnten uns auswärtiges Essen unmöglich leisten.
KAPITEL 22
Papi hat sich im Verwaltungsrat der Möbel Pfister AG total aufgerieben. Mehrere Verwaltungsräte haben mir mitgeteilt, dass er nie in diesem Gremium hätte Einsitz nehmen können, wenn er nicht ein Angehöriger der Gründerfamilie gewesen wäre. Papi wurde mit seiner konservativen Art zunehmend untragbar für ein Unternehmen, das Marktführer war und neue Trends setzen sollte, setzen wollte und immer unter dem Druck stand, allen Mitbewerbern um eine Nasenlänge voraus sein zu müssen, um weiterhin die Nummer eins zu bleiben. Papi soll stets ein Bremser gewesen sein, bekannt als Neinsager, alles Neue, Innovative verneinend, ängstlich, wenig unternehmerisch denkend, kein nach vorne blickender Mensch, kein Stratege, der positiv in die Zukunft schaut. Er soll von seiner Führungstechnik überzeugt gewesen sein und hat seinen Führungsstil nie infrage gestellt und über die Jahrzehnte auch nicht angepasst. Von einer mir sehr nahen Informantin erfuhr ich, dass Papi in einer geheimen Verwaltungsratsabstimmung zum Rücktritt als Verwaltungsrat und konsequenterweise auch als Arbeitnehmer aufgefordert worden war. Papi war zuständig für die Werbeabteilung, war von seinem Werdegang her aber kein Werber und eckte innerhalb des Verwaltungsrates an, weil er lediglich marginal, aber leider mit zu vielen Werbeagenturen zusammenarbeitete, sich verzettelte und deshalb Reibungsverluste das Endergebnis waren. Die überwiegende Mehrheit der Verwaltungsräte war mit seiner unzeitgemässen Werbung nicht mehr einverstanden. Er hatte sich mit seinen Werbeideen und Strategien ins Abseits manövriert, auch wenn Reklame in den 1950er bis 1970er Jahren nicht DIE Bedeutung wie der Oberbegriff Marketing heute hatte. Bei Papi standen Informationen im Vordergrund sowie die Erinnerungswerbung im Stile von "Hallo, uns gibt's noch"! Erst nach seinem Abgang konnte die Reklame für alle Sortimentsbereiche einer einzigen externen Werbeagentur übergeben werden. Nach einem Wettbewerb unter drei namhaften Werbeagenturen fiel der Entscheid auf die Werbeagentur Wirz aus Zürich. Herr Cipolat war Papi oft und stark an den Karren gefahren. Er schrieb mir: "Seine Ansichten über die Werbung habe ich ständig heftig kritisiert." (…) Wobei zu erwähnen ist, dass Ihr Grossvater die Werbung weitgehend bestimmte.”Er war allerdings nicht der einzige, der mit Papis Verständnis für Werbung uneins war. Auch Opapa hatte Mühe mit Papis konservativen Ansichten. Sie stritten sich öfter hierüber, denn Opapa war - obwohl dreissig Jahre älter - viel aufgeschlossener. Beim Kauf von Baugrund für das Projekt Wohnland in Dübendorf legte sich Papi mit den übrigen Verwaltungsräten und auch seinem Vater an. Obwohl dieser dem Verwaltungsrat nicht mehr angehörte, behielt er sich noch immer das Recht vor, seine Meinung kundzutun. Herr Tito Tettamanti soll als Vermittler beim Kauf des Grundstücks seine Hände mit im Spiel gehabt haben, um dieses von den Brüdern Eigenmann zu erwerben, die dort eine Speziallack-Firma betrieben und mit ihrem Oberflächenschutz sogar die NASA beliefert haben. Nach einigen Planänderungen, Einsprachen, weiteren Planänderungen und unliebsamen Bauverzögerungen durch Machbarkeitsstudien und Umweltverträglichkeitsabklärungen wurde das Wohnland in Dübendorf im Jahr 1988 endlich eröffnet. Papi hat es nie betreten. Er hat nach dem Rauswurf, wie man es nun mal nennen muss, mit keinem Mitglied des Verwaltungsrates, der Geschäftsleitung oder anderen Mitarbeitern der Firma mehr Kontakt gepflegt. Auch die Verbindung zu seinem sehr gemochten, dem quirligen, lebenslustigen, ideenreichen Max Nuber, wurde vom beleidigten Papi abrupt beendet; dieser wurde nämlich sein sehr erfolgreicher Nachfolger. Tief gekränkt kam Papi dem Verlangen des Verwaltungsrates nach. Am Freitag, 22. Februar 1980, war sein letzter Arbeitstag. Der Bremser und mit Rücksicht behandelte Angehörige der Gründerfamilie war nicht mehr im Boot. Auch Opapa dürfte mit den Rücktrittsforderungen der Verwaltungsräte einverstanden gewesen sein. Oder war er möglicherweise sogar der Initiator? Es wäre für mich absolut vorstellbar.
Papis 60. Geburtstag feierten wir in seiner Ferienwohnung in Chardonne. Mangels Freunden konnte er nicht im normalen Stil feiern. Wir Kinder schenkten ihm eine Ballonfahrt, die er sich erbat, aber nie eingelöst hat und verfallen liess.
Während meines HWV-Studiums, das ich 1981 mit gutem Abschluss beendete, arbeitete ich an Wochenenden und in den Ferien oft bei der Securitas AG als Reviernachtwächter. Selma mochte meine Abwesenheiten nicht und ängstigte sich. Für diese Tätigkeit sprachen jedoch die recht gute Bezahlung und die Flexibilität der Arbeitseinsätze. Zweimal wurde mir beim nächtlichen Rundgang das abgeschlossene Velo gestohlen und tauchte nie wieder auf. Dies bedeutete 100 Extrastunden. Selma und ich wurden sehr knapp gehalten. Wir besassen keinen Fernseher und lasen jeden Abend aus der Bibliothek geliehene Bücher und auch gegenseitig vor. Wir kochten eine Kasserolle Hörnli, gossen das Wasser ab und fügten vier rohe Eier hinzu. Das war unser Essen für die nächsten drei Tage. Mit Brief vom 11. Januar 1981 haben wir Papis Check von 1'500 Franken zurückgeschickt, obwohl mein Studium noch bis Ende Juni andauerte und Selma nach der Dolmetscherschule noch keine Anstellung hatte. Wir hielten uns weiterhin durch Privatstunden und Securitas über Wasser. Bei uns herrschte ständig Ebbe auf dem Bankkonto, im Portemonnaie und im Kühlschrank, doch trotz diesen bedrängten materiellen Verhältnissen wollten wir so rasch wie möglich unabhängig sein. Papis Antwort liess nicht lange auf sich warten. Am 14. Januar schrieb er uns: "Nun wollt Ihr also ganz allein 'schwimmen', das freut mich. (…) Den Check werde ich für eine Patenschaft einer erdbebengeschädigten Familie in Süditalien verwenden."
Nachdem Papi in die Zwangspension spediert worden war, entwickelte er sich zu einem grässlichen Stubenhocker. Er verliess das Haus kaum noch. Sehr wahrscheinlich befürchtete er, irgendwo jenen Verwaltungsräten zu begegnen, die ihn zum Austritt gedrängt hatten. Er wird sich gedacht haben: "Es tut mir in der Seele weh, wenn ich dich in der Gesellschaft seh!"
Das Jahr 1981 stand ganz im Zeichen unserer ersten herbeigesehnten Ferien. 1974 hatte ich Selma in London kennengelernt, 1976 kam sie in die Schweiz. Noch im selben Jahr wurde geheiratet und sehr anspruchslos gewohnt und gelebt. Mallorca stand nun als Urlaubsland an, und wir leisteten uns eine Woche Ferien. Diese haben wir mit langen Spaziergängen im Sand und einigen Ausflügen sehr genossen. Wir haben Bekanntschaft mit Cuba Libre gemacht; es wurde und blieb für uns das Feriengetränk schlechthin, nebst Sangria natürlich.
KAPITEL 23
Peters Studium an der Universität Zürich von Herbst 1980 bis Frühling 1983 war vor allem von Misserfolgen begleitet. Viele Prüfungen musste er wiederholen, bis er bei so vielen durchgefallen war, dass er nicht mehr weiterstudieren durfte und die Universität verlassen musste. Nach dem Ausschluss von der Uni musste er sich nach einer minder anspruchsvollen Ausbildung zum so sehr erstrebten Doktortitel umsehen, auch wenn dies bedeutete, auf den Dr. med. FMH zu verzichten und sich mit Dr. chir. zu begnügen. Er fand diese Möglichkeit 1983, notabene mit 32 Jahren, als er nach Toronto übersiedelte und sich dort das Chiropraktorendiplom aneignete. Ein befreundeter Arzt meinte mir gegenüber, er werde mit seinen ungeschickten Händen auf der Behandlungsliege einem Menschen das Genick brechen. Glücklicherweise hat er sich bis zum heutigen Tag geirrt.
Während Peter an der Uni studierte, logierte er zu Hause, weil seine Freundin Brigitte P. im Nachbardorf wohnte. Er hatte nicht nur kleine Querelen mit Papi, sondern sehr schwerwiegende, ihn gravierend belastende und beschäftigende Probleme, unlösbare Schwierigkeiten und schlimme verbale Auseinandersetzungen. Peter hatte ein zutiefst gestörtes Verhältnis zu Papi, das ihn des öfteren unangemeldet in unsere Wohnung hineinplatzen liess. Es trieb ihn dringendst, unaufschiebbar zu seinem besten Freund, zu mir, seiner Klagemauer, um sein leidendes, überfliessendes Herz zu entlasten und seinen grossen, schwer auf ihm lastenden Korb zu leeren. Zu mir nach Zürich kam er mit einem Auto aus der Garage seines verhassten Vaters gefahren. Stets war ich gefordert mit meiner Anteilnahme, Zuhör- und Verständnisbereitschaft für den Bruder, da durfte meinerseits nichts Vorrang haben. Selma war dabei nicht geduldet, wir gingen in einen Pub oder in ein Restaurant. Meine Ohren waren ihm für seine Tiraden immer sicher. Er redete ohne Punkt und Komma, manchmal stundenlang und sich öfters wiederholend. Heftigste Verwünschungen wurden geäussert. Wenn von ihm aus gesehen der einzigartige, für ihn so wichtige Dialog, der jedoch ein Monolog war, zum Ende gekommen war, brach er auf, und wir verliessen das Lokal. Ich hatte kaum ein Wort gesprochen. Unzählige Male hat mich Peter über Mittag bei meinem Arbeitgeber zu jener Zeit, der Filmgesellschaft Warner-Brothers, zum Lunch abgeholt und mir wortreich sein Leid geklagt. Ich als Arbeitender und Verdienender durfte dem wohlbetuchten Studenten natürlich das Mittagessen bezahlen. Ich nahm mir gern die Zeit für meinen Bruder, weil er mir Leid tat und ich ihn sehr mochte. Wir waren wirklich beste Freunde, hatten intensiven Kontakt und unternahmen viel zusammen, auch zu viert. Jahre später, unsere Freundschaft dauerte noch immer an, nannte er mich in einem Brief Bruderherz. Was ich ihn nie fragen hörte: Wie geht es dir? Peter war stets zu egozentrisch, als dass er Ohren für seine Mitmenschen gehabt hätte. Peter kannte nur seine Probleme und Belastungen, war zu beschäftigt mit sich selbst. In anderen Worten: Er war ein absoluter Egoist und vernachlässigte fast alles um sich herum. Für meine Anliegen hatte er weder Gedanken noch Zeit; er kam überhaupt nicht auf die Idee, dass auch ich mal mit etwas uneins sein könnte, unter irgendetwas litt. Ausserdem wäre das ja natürlich nichts im Vergleich zu seiner Lebenslage gewesen. Diese Einstellung hat sich auch später nicht geändert, als er geheiratet hatte. Zu gut blieb mir ein Spaziergang zu viert in Unterentfelden zum Tierpark Roggenhausen in Erinnerung, auf dem er Sheridan mehrfach mit "Shut up" anschnauzte, wenn sie sich ausnahmsweise mal getraute, etwas zu sagen. Meine damalige Lebenspartnerin Maja und ich waren entsetzt.
1982 wurde Möbel Pfister runde 100 Jahre jung. Papi war bei den Feierlichkeiten nicht anwesend. Warum wohl?
Im Februar 1983 luden wir meine Eltern sowie Peter und seine Freundin Brigitte P. in unsere Wohnung nach Zürich zum Nachtessen ein mit anschliessendem Besuch der Vorstellung Nostalgisches Cabaret mit Robert Kreis im Kaufleuten. Musik und Gesang vom Besten! Wir hatten sechs sehr gute Plätze in der dritten Reihe, und alle waren vom Dargebotenen begeistert. Papis Kommentar: die Scheinwerfer hätten ihn geblendet und das von ihm gekaufte Los sei eine Niete gewesen.
KAPITEL 24
Den November und Dezember 1983 verbrachte Selma bei ihren Eltern und fünf Geschwistern in Südafrika. Ich nahm die Gelegenheit wahr und suchte einen Psychiater auf, um mein Seelenheil zu glätten. Ich schrieb Selma: "In der Zwischenzeit war ich schon drei Mal beim Psychiater Dr. [B.] Rumer [Zürich], der mir für meine Schwierigkeiten kein Rezept geben kann, sondern vorschlug, die Sitzungen bei ihm für einige Zeit fortzusetzen. Wir reden über alles, nichts bleibt verschwiegen! Sein Kommentar nach der letzten Sitzung: Er könne sehr gut verstehen, dass nach einer solch tragischen, traurigen und lieblosen Jugend meine Gefühle total verkümmert sind und ich Zärtlichkeit verweigere, ja sogar ablehne, und auch keine erwidern könne. Er sei vielmehr überrascht, dass ich nicht kriminell oder schizophren geworden sei und auch nicht zu Perversitäten neige. Er will alles über meine Jugend wissen, eigentlich mehr, als mir lieb ist, denn dadurch bin ich gezwungen, mich an meine vielen negativen Erlebnisse zu erinnern, die ich eigentlich lieber aus meinem Gedächtnis verdrängen möchte, als sie wieder aufzufrischen. Ich hoffe sehr, dass ich durch ihn Erleichterung, ja Erlösung von meiner bedrückenden Last finden werde." Wie heisst es doch: Wer als Kind geschlagen wurde, entwickelt sich zum aggressiven Typus. Ich wurde nicht nur geschlagen, sondern regelrecht verprügelt und habe mich trotzdem nicht zum aggressiven Menschen gewandelt. Welche Folgen es hat, wenn man als Kind geschlagen wurde, darüber existiert eine kaum mehr überschaubare Fachliteratur.
Am 23. Juli 1984 schrieb uns Peter aus Kitimat, einer Stadt in Kanada: "(...) Übrigens müsst ihr keine Angst haben (…) ich schaue immer dass ich nicht auf lateinische Zehrung mache (…) ich bezahle einfach schneller für alle, als die anderen es können, obwohl sie dies eigentlich nicht wollen - aber mir ist wohler so!" Hiezu meine Anmerkung: Es ist ja Papis Geld, das er verprasst, mit meinen Budgets wäre ich nie in dieser Lage gewesen.
In meiner Ehe mit Selma kam es immer öfter zu Krach und Krisen, so dass wir beschlossen, uns zu trennen. Im Mai 1984 informierte ich meine Eltern auf dem Gartensitzplatz ihres Hauses über die bevorstehende Scheidung. Sie sassen am runden, schwarzen Schiefer-Tisch bei Kaffee und Kuchen und ich in der Hollywood-Schaukel ohne Kaffee und Kuchen. Spontan und generös – und für mich total überraschend – bot Papi an, die zu bezahlenden Alimenten zu übernehmen, damit meine Zukunft finanziell nicht verbaut sei und ich mit einer neuen Partnerin hierunter nicht zu leiden hätte. Offensichtlich hat sich Mami später dagegen aufgelehnt. Wir wurden am 22. August 1984 geschieden. Weil noch kein Geld geflossen war, schrieb ich Papi am 27. Dezember einen Brief, in welchem ich ihn an die versprochenen Alimentenzahlungen erinnerte. Unter Mamis Einfluss fiel seine Reaktion herb und für mich schockierend aus. Ich musste ihm die geschenkt erhaltenen zehn WEGA-Aktien unentgeltlich zurückgeben, obwohl diese einen inneren Wert von 195'000 Franken verkörperten. Papi erinnerte sich seiner Aussage vom Mai 1984 irgendwann doch noch und erkundigte sich am 1. Februar 1985 schriftlich bei mir: "Bitte teile mir noch mit, wohin die monatlichen Alimentbeträge einbezahlt werden sollen." Und wieder intervenierte Mami; das Geld wurde rückwirkend überwiesen. Tranchen von 50'000 Franken, 100'000 Franken und 150'000 Franken erhielt ich im August 1989, im August 1994 und im August 1999 zu meinem 35., 40. und 45 Geburtstag. Die erste Überweisung von 50'000 Franken erfolgte genau fünf Jahre nach der Scheidung, zu einem Zeitpunkt, als ich Selma bereits über 130'000 Franken an Alimenten bezahlt hatte. Eine von Papi getroffene Vereinbarung sah im Falle, dass ich versterben sollte, vor, dass die nicht bezahlten Teilbeträge an Papi zurückfallen würden. Nach den Schenkungs- würden dann sogar Erbschaftssteuern fällig. Das hätte man viel gescheiter ohne fällige Schenkungssteuern und mögliche Erbschaftssteuern angehen können. Bei meiner Scheidungsvorbereitung hat sich Papi ungefragt, aber intensiv eingeschaltet und mit meinem Anwalt, Dr. Wieland Schmid, über mich hinweg gesprochen und korrespondiert. Der Gegenanwalt hiess Dr. Max Rottenberg, und Papi glaubte sofort zu wissen, dass dieser ein Jude sei. Zusammengesetzte Namen mit der Endung auf "berg", "gold", und "stein" bewiesen dies, liess er mich wissen. Er schimpfte über die Juden, diese miese Menschengattung. Rechtsverdreher seien sie, womit er bislang nur schlechte Erfahrung gemacht habe, man müsse nur nach Amerika schauen, was die für Urteile herbeistritten. Schlimmstes, verwerflichstes Pack. Nach dem Spruch von Papi, die überwiesene Akontozahlung an meinen Rechtsanwalt im Betrag von 3'000 Franken sei überrissen, entspreche sie doch einem Monatslohn, wollte ich herausfinden, wie viel er zu seiner Zeit bei Möbel Pfister verdient hatte. Ich fragte mich bei mir bekannten Angestellten durch und machte mich an die wissende und recht gutaussehende Direktionssekretärin ran, lud sie zu Essen und Theater ein, habe ihr nach allen Künsten der Verführung den Hof gemacht, beschenkte sie mit kleineren oder grösseren Aufmerksamkeiten und erhielt mehr Antworten, als ich Fragen gestellt hatte. Sie nannte mir nicht nur das Gehalt meines Vaters, sondern sämtlicher Verwaltungsräte, auch das von Finanzchef Willi Lüscher und Jürg Pfister, Papis Bruder. Dass Papi fünfmal mehr verdiente als Jürg, fand ich ziemlich unverschämt. Die Informantin erzählte mir auch von Papis Griffen an die Kleinbrüstigen und den ihm nahegelegten Rücktritt.
Von 1982 bis 1985 bildete ich mich trotz Eheproblemen, Umzug, Scheidung, neuer Freundin in einem strengen, anforderungsreichen Intensivlehrgang zum Eidg. Dipl. Buchhalter/Controller weiter, als einziger bei vollem Berufspensum.
Zum 30. Geburtstag, am 25. August 1984, bekam ich von Mami und Papi ein hellblaues Fixleintuch geschenkt. Wegen des geplanten Wohnungsauszugs war ich am 7. Juni 1984 mit öV bei Möbel Pfister in Suhr gewesen und hatte den Kaufvertrag für ein neues Schlafzimmer im Wert von 5'287 Franken unterschrieben. Anschliessend besuchte ich meine Eltern und zeigte ihnen den Kaufvertrag. Papi ging alle Positionen des Vertrages durch mit entsprechenden Kommentaren. Auch störte ihn das Doppelbett, ich sei ja jetzt wieder alleine. Mami und Papi einigten sich, mir das hellblaue Fixleintuch für 96 Franken sowie eine Zudecke mit wechselseitigem Dessin, blau gestreift, für 226 Franken zu schenken. Später strich Mami letzteren Posten, und es blieb beim Fixleintuch.
Hilfe, Empathie, Verbundenheit oder Zugehörigkeit habe ich weder von Papi noch von Mami je erfahren. "Du bist nichts und du kannst nichts" – dies habe ich oft von Papi hören müssen. Auch noch, als ich bereits gegen 40 Jahre alt war, drei eidgenössische Diplome in der Tasche hatte und seit mehreren Jahren erfolgreich selbständig war. Vielleicht war Papi dies nicht mehr bewusst, weil an sämtlichen Diplomfeiern nie jemand aus meiner Familie anwesend war. Ich möchte Prof. Sigmund Freud zitieren: "Bedingungslose Liebe ist der Quell für das lebenslange Selbstwertgefühl eines Menschen." Oder Prof. Jürg Kesselring: "Ob jemand ein heller Kopf wird, hängt nicht nur von den Genen von Vater und Mutter ab, sondern auch davon, wie Eltern ihren Nachwuchs stützen und unterstützen. Kinder sind neugierig - und neugierig sein heisst, lernen zu wollen. Erwachsene dürften das nicht im Keim ersticken und schon gar nicht einem Kind einreden, es sei zu dumm und begreife es sowieso nie. Das kann bis ins hohe Alter zerstörerisch wirken." Übrigens gab es auch nie ein Geschenk zu irgendeiner dieser Auszeichnungen, auch keine Gratulation oder einen lobenden Händedruck. Prüfungen sind da, um bestanden zu werden, und ich hätte es ja für mich getan, waren Papis Argumentationen. Mami befand: "Schön für dich." Meine Eltern waren streng, ungerecht und lieblos. Sie haben mir an materiellen Dingen gegeben, was ich benötigte, mehr nicht. Nie habe ich von ihnen jene zugeneigte, warme, liebevolle Fürsorge empfangen, die das Herz eines Kindes erfreut und sein Selbstbewusstsein stärkt.
KAPITEL 25
Lisbeth und Heinz hatten schon lange nach einer Bauparzelle Ausschau gehalten. Endlich liess sich ihr Wunsch nach einem Eigenheim realisieren. Die Freude war gross, als sie mit Muriel und Joëlle am 26. November 1987 das Haus am Chemin du Grammont 1 im selben Dorf Chardonne beziehen konnten und bis heute bewohnen. Meine tatkräftige Mithilfe beim Umzug sowie bei der Montage des Holzzaunes im folgenden Jahr war selbstverständlich. Wir haben die gemeinsame Arbeit genossen, auch einiges zu lachen gehabt, und meine Schwester sorgte für währschafte Mahlzeiten. Einige Jahre später wurde Lisbeth für die Sozialdemokratische Partei in den Gemeinderat gewählt. Die Tätigkeit in diesem Gremium hat sie mit grosser Begeisterung getan und ausgefüllt. Es wird zwischen ihr und Heinz sicherlich zu kontroversen Diskussionen gekommen sein, denn er war und ist ein FDP-Sympathisant.
Im Gegensatz zu seinem Vater musste Papi bis 1989 zu Recht befürchten, dass sich seine Kinder von ihm abwenden würden, wenn er ihnen zu Lebzeiten ihren Erbteil ausbezahlt hätte, denn er war zu jener Zeit wirklich kein angenehmer Herr Papale. In Thomas Manns Werk scheint des Senator Buddenbrooks Vertrauen in die Zuverlässigkeit seiner Ehefrau nicht hundertprozentig gewesen zu sein. Aus dem Testament spricht die Furcht, dass seine Frau Julia zu schwach sein könnte. "Allen Kindern gegenüber", so verfügte er, "möge meine Frau sich fest zeigen und alle immer in Abhängigkeit halten. Wenn sie je wankend würde, so lese sie König Lear." King Lear überschreibt in Shakespeares gleichnamigen Drama seinen Besitz zu Lebzeiten den Töchtern, woraufhin diese ihn als Bettler behandeln.
Am 26. Oktober 1990 heirateten Peter und Sheridan Westwood – auf Papis Kosten. Ob Lisbeth und Heinz mit dabei waren, weiss ich nicht mehr. Lisbeth wollte mir die entsprechende Frage nicht beantworten, was wohl eher auf eine Verneinung hindeutet. Auf den wenigen von Papi erhaltenen Fotos sind sie jedenfalls nicht abgelichtet, und es sind auch keine Freunde von Peter zu sehen. Er hatte kaum welche.
Ich kann mich nicht erinnern, dass Peter nach der Lehre beim Schweizerischen Bankverein im Alter zwischen 21 und knapp 40 Jahren bis zum Praktikum als Chiropraktor irgendwann, irgendwo gearbeitet und Geld verdient hat, um gegenüber unserem Vater seinen Goodwill zu zeigen und nicht länger finanziell von ihm abhängig zu sein. Sein Praktikum absolvierte er bei Dr. Bruno Widmann in Aarau. Gemäss Papi war Dr. Widmann nicht begeistert, dass sich Peter zum Chiropraktor berufen fühlte. Peter hat sein Praktikum im Unfrieden mit Dr. Widmann beendet.
Mami liebte Peter schon immer abgöttisch, bei ihm ging fast Sämtliches durch. Selten gab es ein Nein, es wurde sehr viel Nachsicht geübt. Als Peter 1991 mit viel Mühe und Anstrengung, 40jährig, endlich die Bescheinigung der Doktorwürde in den Händen hielt, begann sie ihn zu bewundern, geradezu anzuhimmeln, zu heroisieren. Der Verhätschelte wurde nun auch noch vergöttert. Ihm war nun alles grenzenlos erlaubt. Für Mami war Peter der Star unserer Familie, das Aushängeschild, das Köstlichste und Beste, das sie je gekannt hatte. Papi konnte sich für Peters Doktorhut nicht gross erwärmen und brachte hierfür keine Begeisterung auf. Es hatte ihn ja schliesslich auch eine Stange Geld gekostet. Papi hielt wenig von Akademikern. Diese, Heinz eingeschlossen, seien alles Theoretiker und keine Praktiker. Sein Onkel Pauli väterlicherseits war für ihn stets das abschreckende Beispiel. Dieser Herr Doktor war leider nicht zum Arbeiten geboren und wurde auf hohem Niveau lebenslänglich durchgefüttert, sogar seine teuren Hobbies wurden finanziert. Mir schrieb Papi: "Gerade unter Akademikern, die dank gutem Gedächtnis viel Wissen in sich hineingepfropft haben, trifft man viele, die dennoch lebensuntüchtig sind." Die Erlangung des Doktortitels musste gebührend gefeiert werden, also lud Peter Maja und mich anderntags zu einigen Prosits und einem feinen Menu der guten Köchin Sheridan ein. Mir fiel sofort auf, dass am Briefkasten, an der Klingel sowie am Wohnungsschild drei provisorisch eingelegte Namensschilder mit "Dr. Peter Pfister" prangten.
Wie mir Lisbeth in späteren Jahren sagte, sei das Adoptionsgesetz irgendwann geändert worden, und ich hätte adoptiert werden können. Meine Pflegeeltern sahen jedoch infolge meines fortgeschrittenen Alters davon ab und weil das Steuergesetz im Kanton Aargau angepasst worden war, wonach im Testament berücksichtigte Pflegekinder nach fünf Jahren Obhut erbschaftssteuerbefreit seien, weshalb mir bei der Erbschaft keine finanziellen Nachteile entstehen würden.
Im Dezember 1991 flogen Peter und Sheridan für mehrere Wochen - auf Papis Kosten - nach Kanada, ohne Kevin. Grundsätzlich eine vernünftige Entscheidung, nur, wer durfte die Aufsicht über den sechsmonatigen Jungen übernehmen? Natürlich Mami. Vorgängig luden wir Peter und Sheridan zum Nachtessen ein. Mami hütete Kevin. Peter war stets unpünktlich. Meist kam er eine halbe bis ganze Stunde zu spät. Nie mit einer Entschuldigung. Abgemacht zu diesem Adventessen war zwischen 19.45 und 20 Uhr. Diesmal erschienen Peter und Sheridan bereits um 18.45 Uhr. Das hat Maja stark genervt und gestresst.
Zum zweijährigen Jubiläum der zivilen Trauung lud uns Peter mit Sheridan ins chinesische Restaurant Freihof an der Laurenzenvorstadt in Aarau ein. Ich kaufte von Sheridan ein von ihr gemaltes Bild, das sich Maja gewünscht hatte.
Die Eltern waren im Oktober 1992 bei uns in Uster zum Lunch eingeladen. Auf ausdrücklichen Wunsch von Mami wollte sie die verwitwete Mutter von Maja, die im Haus nebenan wohnte, nicht kennenlernen, ohne Angabe eines Grundes. Wir mussten sie wieder ausladen, kein einfaches Unterfangen.
Am Samstagabend, 27. August 1994, gingen wir zu Ehren meines 40. Geburtstages ins Restaurant Chalet auf der Saalhöhe. Papi, wie immer hungrig, wollte sofort das Essen bestellen, obwohl sich Peter noch nicht eingefunden hatte. Mami war dagegen, und so mussten wir uns alle über eine Stunde lang gedulden, bis er endlich eintraf. Peter war mit Kevin an einer Flugshow in Buochs gewesen. Bei Peter hing der Haussegen einmal mehr oder immer öfter schief, und Sheridan war mit Kevin und der am 28. Mai 1994 geborenen Kim zu Hause geblieben. Nach dem Essen lud Peter Maja und mich zu sich ein, um uns das neu bezogene Haus zu zeigen. Kevin war noch auf, weil sein tomatenroter Kopf, der Nacken, die Arme und Hände grauenhaft schmerzten. Dem auffallend Hellhäutigen hätte Peter an diesem schönen Sommertag die sonnenempfindliche Haut mit einer Crème von hohem Schutzfaktor einreiben sollen.
KAPITEL 26
Mamis 75. Geburtstag feierten wir im Restaurant Hirschen in Erlinsbach. Die Jubilarin wusste nicht, wo gefeiert und wer teilnehmen wird. Sie wurde "entführt". Das Fest hatten Peter und vor allem ich abgewickelt. Peter hat viele Stärken, das Organisieren war, um es vorsichtig auszudrücken, seine starke Seite nicht, weshalb wir für die Planung und Vorbereitung mehrere Termine benötigten. Sheridan hätte Tischkärtchen zeichnen sollen, war damit auch einverstanden, doch litt sie einmal mehr an dauerhaften Depressionen und oder Migräneanfällen und konnte die Aufgabe in den zwei Wochen bis zum Anlass nicht übernehmen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob sie tatsächlich anwesend war oder ob ein weiterer Zwist mit Peter sie daran hinderte. Nani (Papis verwitwete Stiefmutter) und Jeannette (Papis verwitwete Schwägerin) durften nicht eingeladen werden. Mami mochte die beiden nicht. Ich fragte meine Geschwister, ob sie eine Rede halten möchten, dies wurde verneint. Als ich sagte, ich würde eine Ansprache halten, haben sie es mir verboten. Ich bin ganz sicher, mir wären die richtigen Worte eingefallen, und es hätte auch etwas zu schmunzeln gegeben. Auch Papi hielt keine Ansprache auf die Jubilarin. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 3'406 Franken. Lisbeth konnte sich mit lediglich 400 Franken beteiligen. Heinz als Kassenwart hat ihr sicherlich vorgerechnet, was Budget ist. Peter war entsetzt und beschwerte sich über das knauserige Verhalten unserer Schwester lautstark, schliesslich hatte sie eingewilligt, dass er und ich das Fest organisieren, das Menue und den Wein auswählen sollten. Ich führte einige Telefonate mit Lisbeth und Peter, denn er wollte sich nicht direkt mit ihr in Verbindung setzen, mied seit jeher den Kontakt mit ihr. Lisbeths Anteil traf nach zwei Monaten ein, auf die 1'500 Franken von Peter musste ich vier Monate warten.
Am 6. Oktober 1995 besuchte ich meine Gotte im Universitätsspital Zürich, Frauenklinik, Stockwerk G, Zimmer 34, von 18.20 - 19.45 Uhr. Sie war in diesem Jahr bereits zweimal im Spital, beim ersten Besuch wurden der Diabetikerin zwei Zehen amputiert und kürzlich war sie wegen einer Lungenentzündung hospitalisiert. Jetzt ging es um eine Frauengeschichte. Während des Gesprächs sagte sie, sie wolle mir etwas berichten, worüber sie bisher mit niemandem gesprochen habe. Es entstand eine längere Pause, und ich bemerkte, dass es ihr offensichtlich schwer fiel. Also: Mami habe vor vielen Jahren erfahren, dass Papi einigen Fräuleins in der Firma zu nahe gekommen sei. Er habe sie an Orten berührt, wo es sich nicht geziemte. Mami habe ihr telefoniert und in Erwägung gezogen, sich scheiden zu lassen und wieder in die Ostschweiz, in die Nähe ihrer Geschwister, zu ziehen, denn in Unterentfelden sei sie nie heimisch geworden, hatte keine Luft zum Atmen und konnte sich nicht entfalten, also nie tun und lassen, was ihr gefiel. Papi bestimme und entscheide alles und sei nie auf sie eingegangen, deshalb sei sie ihm gegenüber körperlich auch immer zurückhaltender geworden. Der goldene Käfig genüge ihr schon lange nicht mehr. Gotte habe Mami von einem solchen Schritt abgeraten und vorgeschlagen, Mami solle mit ihm reden. Sie könne ihm ja mit der Scheidung drohen und damit eher erreichen, was ihr vorschwebe, und müsse sich nicht mehr alles gefallen lassen. Ich konnte meiner Gotte bestätigen, dass mir der erste Teil zugetragen worden sei und ich zu Beginn der 1970er Jahre den Eindruck gewonnen hätte, Mami habe die Oberhand in der Beziehung an sich gerissen. Ich wusste, dass mich meine Gotte gern hatte, doch diese Vertrautheitskundgebung überraschte mich sehr, und auf der Heimfahrt fragte ich mich wiederholt, weshalb sie mir dies wohl mitgeteilt habe. Und warum erst jetzt?
Am 28. Oktober 1995 beging Papi seinen 75. Geburtstag. Wie bereits beim 50., 60. und 70. feierte er wiederum ohne Freunde, weil er keine hatte. Gemäss Telefonnotiz mit Lisbeth war Mami gegen eine Einladung von Nani und Jeannette Pfister, auch Papi soll dagegen gewesen sein. Auf Wunsch des Jubilars luden wir Kinder ihn und Mami zum Mittagessen ins Restaurant Chalet ein, was uns in Anbetracht des zu feiernden Anlasses etwas dürftig erschien.
Im Oktober 1995 wurde bei mir Diabetes Typ 1 festgestellt, was im Dezember einen Aufenthalt in der AMI-Klinik Zürich zur Folge hatte, um gut eingestellt zu werden. Als ich dies Papi unter vier Augen mitteilte, sagte er lakonisch und teilnahmslos: "Es gibt Schlimmeres." Ich fragte ihn, ob ich es Mami mitteilen dürfe. Da es Mami zu dieser Zeit mit ihrem Herzen nicht gut ging, sagte Papi, sie müsse geschont werden, er werde es ihr erörtern. Während meines zehntägigen Spitalaufenthaltes erhielt ich von meinen Eltern und meinem Bruder weder einen Besuch noch ein Telefonat, auch kein Buch oder eine Karte. Lisbeth hatte sich besorgt telefonisch bei mir gemeldet. Nachdem bei mir die Zuckerkrankheit diagnostiziert worden war, stellte mir Mami während Jahren immer wieder dieselben Fragen. Meine Antworten schien sie jeweils schnell vergessen zu haben. Als auch Peters Sohn Kevin viele Jahre später daran erkrankte, war sie plötzlich gut informiert, stellte keine sich wiederholenden Fragen, konnte sogar sehr kompetent über diese chronische Stoffwechselerkrankung mitreden. Papi wusste hierüber nie viel und stellte unzutreffende Behauptungen auf. Da ich bei meinen Eltern keinen Wein trank, bemerkte er, das dürfe ich ja nicht wegen meiner Zuckerkrankheit. À propos Wein: Papi trank und verstand wenig hiervon. Er kaufte vor mehr als 50 Jahren stets Rosé d'Anjou. Ich sehe die hohe, schmale Flasche noch heute vor meinem geistigen Auge. Darauf war ein kreisrunder roter Kleber mit dem schwarzen Preis: 1.95 [Franken]. Er entkorkte die Flasche, schenkte sich ein, führte das Glas zur Nase, roch daran, führte das Glas zum Mund, nahm einen Schluck – und sogleich runter damit. Anschliessend verkündete er, die Luft geräuschvoll ausstossend, das sei ein guter Wein, diesen müsse man mit Verstand trinken. Dann folgte eine Unterbrechung von drei Sekunden, während er uns Kinder anschaute, und dann anfügte: "So man hat." Diesen Vorgang wiederholte er öfters, was mich dermassen genervt hat, dass ich in späteren Jahren in seiner Gegenwart nie Wein getrunken habe.
Hier einige weitere, nur mässig erheiternde Anekdoten, die Papi regelmässig zum Besten gab: Wenn Besuch kam, stellte Papi uns Buben vor und sagte: "dies ist Peter, 14 Jahre alt und immer noch ledig." Papi war stets der einzige, der dies lustig fand, während Peter schnaubte. Erschien Catherine Valente am Fernseher, was in den 1960er Jahren des öfteren vorkam, wurde sie von Papi stets gespielt freundlich mit "Guten Abend, Frau Waldente" begrüsst. Er allein lachte. "Der Ehemann einer Spanierin steigt in ihrer Achtung, wenn er sie schlägt." Über das weibliche Geschlecht wusste er aus Überzeugung zu berichten: "Man hat immer die Freundin oder Frau, die man verdient." Für Peter und mich hatte er folgenden Ratschlag in Form eines Wortspiels: "Geht keine Abenteuer ein, sie enden immer lediglich in einem teuren Abend." "Lobet die Frauen, sie backen und trölen, himmlische Kuchen für irdische Lölen." "Jede Generation sollte einen Krieg erleben." "In jedem Land gibt es eine Armee, entweder die eigene oder eine fremde."
Obwohl ich prädestiniert und gerne bereit gewesen wäre, für die Praxisbuchhaltung und Steuerangelegenheiten meines Bruders fachmännisch besorgt zu sein, wählte er lieber jemanden von ausserhalb der Familie. So handhabte Peter es auch bei den Paten seiner Kinder. Mit beiden hat er sich zerstritten, einer war sein Vermieter. Mami sagte mir mit einem kritischen Unterton in der Stimme, die Gotte von Kevin wohne in Holland, es sei eine Freundin von Sheridan. Von ihr werde der Bub wohl nicht viel haben.
Lisbeth und Heinz wollten für eine Woche nach Rom. Also wurde ich angefragt, ob ich Muriel (18 Jahre) und Joëlle hüten würde. Joëlle komme, obwohl erst 13 Jahre alt, morgens zwischen vier und fünf nach Hause. Ab 1. Oktober 1996 weilte ich wunschgemäss für eine Woche in Chardonne und beschenkte sie mit Kleidern, Schuhen, Papeterieartikel und feinen Esswaren. Und Bargeld gab's auch noch. Wir hatten eine grossartige Zeit zusammen.
Papi telefonierte mir am 11. Dezember 1996, um sich nach meiner neuen Adresse zu erkundigen, obwohl ich diese Mami schon längst mitgeteilt hatte. Bei dieser Gelegenheit fragte er mich, wieviel Miete ich in Erlenbach bezahle. 2'700 Franken war meine Antwort. Papi meinte, das sei ja wahnsinnig viel, er bezahle in Chardonne nur 1'100 Franken für die Ferienwohnung. Dann sagte er: "Das ist ja deine Sache und geht mich nichts an." Wenn ich spontaner und mutiger gewesen wäre, hätte ich Papi darauf hingewiesen, dass meine Wohnung nun auch als Büro diente. Man konnte davon ausgehen, dass Mami und Papi vier Wochen pro Jahr in Chardonne verbrachten. Ihre Jahresmiete betrug 12 x 1'100 = 13'200 Franken für lediglich einen Monat. Bei Papis gesamten Aufwendungen fürs Wohnen wären auch der marktwirtschaftliche Mietzins in Unterentfelden sowie die Gärtnerkosten in der Grössenordnung von 70'000 Franken jährlich zu berücksichtigen. Ist eben schon fragwürdig, womit man vergleicht.
Es war wieder Weihnachten. Wir trafen uns am 25. Dezember 1996 bei den Eltern. Peter, Sheridan und deren Kinder Kevin und Kim liessen sich nicht blicken. Unser Bruder vertrug sich noch immer nicht mit unserer Schwester. Muriel erhielt von mir 300 Franken für die Gitarre und Joëlle einen CD-Player für 340 Franken. Nach dem Nachtessen spielte Joëlle auf der Orgel in Papis Büro. Ich stand daneben und stellte fest, dass viele Fotos von den Kindern und Enkeln vorhanden waren, aber keines von mir, auch nicht in Mamis Arbeitszimmer, wo es dafür Fotos von Austauschstudentinnen oder -studenten hatte. Lisbeth und Peter haben sich nie an meiner Fotoabsenz gestossen. Ich besitze weder ein Foto von Mami noch von Papi. Nicht, weil ich es aus gutem Beweggrund weggeworfen hätte, sondern weil sie mir nie eines geschenkt haben. Aus meiner Jugendzeit finden sich in meiner Fotosammlung keine fünf Fotos, die Papi von mir geschossen hat.
Am 2. Januar 1997 starb der ehemalige Geschäftsleiter der Möbel Pfister AG, der famose Edy Burkhardt. Papi ging nicht an die Beerdigung. Warum wohl? Niemand von unserer Familie ging hin. Ich erfuhr von seinem Ableben aus der NZZ und wäre gerne an die Beisetzung gegangen, schliesslich mochte er mich - und hatte es mir immer wieder bewiesen - und ich ihn auch. Im Wissen, dass Papi nicht zur Beerdigung ging und mir eine Teilnahme verübelt hätte, verzichtete ich darauf. Wenn ich als Jugendlicher in Suhr arbeitete, hatte Onkel Edy mich öfters in sein geräumiges Büro mit gepolsterter, schallschluckender Türe gerufen, und wir unterhielten uns während ca. einer Viertelstunde. Gespräche, die ich mit Papi niemals hatte. Obwohl er sicherlich Wichtigeres zu tun gehabt hätte, nahm er sich die Zeit für mich, was ich ihm stets hoch anrechnete.
In den 1990er Jahren hatte mir Papi gesagt, er habe für uns drei Kinder Kopien seiner 16mm-Filme aus unserer Jugend anfertigen lassen, die würden wir nach seinem Ableben erhalten. Weshalb erst so spät? Ich erhielt nichts davon.
Im Jahr 1997 gab ich Walter Baumann ein Darlehen von 140'000 Franken. Ich kannte ihn schon viele Jahre. Er war Teil unserer Jugend-Clique und auch öfters im Garten meiner Eltern. Zu meinem Leidwesen kam er seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht nach. Ich hatte ihm dieses Darlehen vor allem deshalb gegeben, weil ich wusste, dass seine vermögenden Eltern und meine auf dem Duzfuss standen und das Darlehen annahmsweise gesichert sei. Wie es zu dieser Duzfreundschaft kam weiss ich nicht, habe Herrn und Frau Baumann jedenfalls nie im Hause meiner Eltern gesehen. Ich bat Papi, mit Herrn Baumann zu telefonieren und zu fragen, ob dieser das Darlehen zu Lasten von Walters Erbe übernehmen könnte. Papi schlug mein Ansinnen in den Wind, unternahm nichts, und ich musste das Geld nach aufwendigen Betreibungs-, Friedensrichter- und Gerichtskosten abschreiben. Papi hat mir später einige Zeitungsartikel über Walter Baumann in mein Postfächlein bei ihm zu Hause gelegt. Etliche Jahre später erfuhr ich, dass Walter Baumann hoch verschuldet von ausländischen “Geschäftspartnern” ins Jenseits befördert worden war.
Am 12. Oktober 1997 kamen Lisbeth, Muriel und Joëlle per Bahn nach Erlenbach. Lisbeth wollte ihren Töchtern das Grundstück sowie die grosse und seit bald zwei Jahren leerstehende Villa von Opapa zeigen. Ich holte sie am Bahnhof ab und führte sie zum Anwesen, welches kurze Zeit später einer Überbauung mit 38 Häusern weichen musste. Lisbeth fielen eine Lampe und ein Emailschild auf, das sie unbedingt haben wollte. Ein kurzer Abstecher in meine Wohnung wurde von Lisbeth abgelehnt. Sie bestiegen bereits um 14.30 Uhr wieder den Zug nach Chardonne. Ich holte Werkzeug und fuhr zur Casa Felice, wo ich die zwei Gegenstände abmontierte und Lisbeth Wochen später überbrachte.
Am 28. August 1998 besuchte ich Mami und Papi und stellte ihnen meine Freundin und spätere Ehefrau Edith vor. Im Wohnzimmer kam es wie stets nur zu einer trivialen Konversation. Plötzlich stand Papi auf und bat Edith, ihn in den Keller zu begleiten. Hier zeigte er ihr zwei wirklich gut gelungene Kunstwerke von nachgebauten Schlitten – die Originale hatte er sich aus dem Verkehrshaus Luzern ausgeliehen. Er sagte zu ihr, die seien für seine zwei Kinder [Lisbeth und Peter] bestimmt. Sie hatte nicht den Mut zu erwähnen, er habe doch drei Kinder.
KAPITEL 27
Am Ostermontag 1999 telefonierte ich spontan mit Mami und fragte, ob wir vorbeikommen dürften. Ich musste mich stets bei Mami für eine Visite anmelden und bekam öfters Absagen. Spontane Besuche waren uns grundsätzlich nicht erlaubt. Peter hielt sich natürlich nicht daran. Er ignorierte prinzipiell die Spielregeln und Wünsche der Eltern, auch hier war er konsequent eigensinnig. Er kam, wann er wollte. Wenn eine Zeit vereinbart war, dann kam er ganz sicher unpünktlich, aber immer äusserst geräuschvoll. Lisbeth wohnte zu weit weg, so dass die Spontaneität in ihrem Fall nicht zum Tragen kam. Wir durften sie besuchen und nach der Begrüssung teilte ich den Eltern mit, dass ich in Winkel, zwischen Kloten und Bülach gelegen, einen Hausteil eines Zweifamilienhauses gekauft hatte. Papi machte sich lustig, dass es sich um ein zusammengebautes Haus handelte und dieses mit Fluglärm belastet ist. Auch dass wir am 9. September heiraten werden, informierte ich die Eltern. Mami meinte, sie hätten dies erwartet. Papi sagte nichts, schaute mir über seinen goldenen Brillenrand hinweg lange in die Augen. Ich hielt seinem Blick stand, bis er sich abdrehte und ins Esszimmer ging. Abends kamen Peter, Sheridan und die Kinder. Papi teilte Peter schon im Hauseingang mit, dass ich einen Hausteil mit Fluglärm gekauft hätte und dass Edith und ich heiraten würden. Gegenüber Peter bemerkte ich nur, dass man ein Haus ja auch bezahlen können müsse. Es muss Papi fürchterlich geärgert haben, dass ich nicht angekrochen kam, um zu betteln wie Lisbeth und Peter für ihre Häuser und Peter zusätzlich noch für seine Praxis. Anderntags telefonierte ich Lisbeth. Papi hatte sie bereits über Hausteil und Ehe unterrichtet. Ich lud Lisbeth und Familie - vorab telefonisch - zu unserer Hochzeit am Donnerstag, 9.9.99 ein, doch Lisbeth konnte sich nicht entscheiden, weil Heinz an diesem Tag arbeite. Das Haus würde sie schon interessieren und deswegen wollte sie eigentlich auch kommen.
Am Samstag, 8. Mai 1999, telefonierte ich nach Unterentfelden. Ich wollte fragen, ob ein Besuch am morgigen Muttertag willkommen sei. Papi nahm den Hörer ab, und ich erfuhr, dass Mami am 1. Mai in Chardonne gestürzt war. Wir besuchten sie in der AMI-Klinik in Aarau. Mami offerierte Edith die Anrede Mami und das Du. Papi war mit ihr noch lange per Sie. Anschliessend besuchten wir Papi zu Hause.
Von Lisbeth erfuhr ich, dass mit Datum vom 6. Juni 1999 von Papi eine Liste erstellt worden war, was aus der elterlichen Ferienwohnung in Chardonne verschenkt werden dürfe. Ich hatte von dieser Liste erst am Sonntag, 25. Juli, beim Besuch bei den Eltern erfahren. Weiter teilte mir Lisbeth mit, Jean-Jacques habe einen Lastwagen geleast und Schulden bis unters Dach, Muriel müsse beisteuern. Peter sei in Chardonne gewesen und habe für einige Sachen sein Interesse angemeldet, sie jedoch nicht besucht, obwohl sie nur 500 Meter nebenan wohne. Ich bin sicher, dass Peter bis mindestens 2009 (da war unsere Schwester bereits 60 Jahre alt) nie bei ihr zu Besuch war – und unsere Schwester auch nie bei ihm. Lisbeth erwähnte weiterhin, dass Papi gestern telefoniert und ihr mitgeteilt habe, was Peter aufgrund der Liste beanspruchen möchte. Ich habe keine solche Liste erhalten.
Am Telefon teilte mir Mami am 18. August 1999 mit, dass sie am 9. September, dem Tag unserer Hochzeit, Riverdance ansehen würden, sie kämen aber zum Apéro um 16 Uhr. Vorher würden sie bis zum 3. September mit Günter und seiner Frau Elise ferienhalber in Österreich weilen. Was mir Mami nicht sagte, meine dritte Frau Bernadette (von mir Bigi genannt) und ich aber von Günter am 22. November 2015 erfahren hatten, war, dass Papi ihn und seine Frau im Laufe der Jahre regelmässig in die Ferien nach Kanada, die USA, Österreich und ins Tessin eingeladen und jeweils sämtliche Kosten übernommen hatte.
Während ich am 1. September 1999 auf dem Hometrainer strampelte, hörte ich, dass Peter auf den Telefonbeantworter sprach: "Salü Fridel, da isch de Pe. Du los, ich möcht no gschwind mit dir rede wäge dim Hochzet am 9.9.99. Für öis isch's sehr schwirig zcho, wil ich denn an en Vortrag muess. Dä isch sehr sehr churzfrischtig agseit worde und dä isch für mich obligatorisch, und ich ha dich nur emol welle froge, öb me das Fescht villecht au chönti uf en andere Tag verschiebe. Wänn mer chöntsch zrug lüüte, wär i froh, tschau Fridel." Peter und Papi nannten mich seit jeher Fridel, denn Papis Vater hiess auch Fritz und seine Altersgenossen und sein Vater hatten den Beinamen Fridel auserkoren.
Am 9. September 1999 heirateten Edith - meine zweite Frau - und ich. Nach dem Staubsauger zur ersten Hochzeit wären meine Eltern zu diesem Anlass bereit gewesen, für die Kosten eines Gartenschlauchs aufzukommen. Über dieses Geschenkangebot sind wir erhobenen Hauptes hinweggegangen. Bei meiner dritten Hochzeit im Juli 2013 war Mami bereits verstorben, und von Papi, Lisbeth und Peter kam nichts; Papi und Peter hatten die Verbindung zu mir seit der Enterbung von 2009 abgebrochen.
Im September 1999 gaben meine Eltern ihre Ferienwohnung in Chardonne auf, weil Mami dort gestürzt war. Als es um die Räumung der Wohnung ging, wurde ich angefragt, ob ich Papis Fernsehfauteuil haben möchte. Lisbeth und Peter wollten ihn nicht und auch niemand anders. Ich fühlte mich verpflichtet, den Fernsehsessel aus Dankbarkeit anzunehmen. Als wir das voluminöse Stück mit einem geliehenen Fahrzeug in Chardonne abholten, realisierten wir, dass der Sessel von Katzen total zerkratzt worden war. Wieder zu Hause, mussten wir das Auto sogleich zurückgeben, und ich bot werktags einen Gemeindearbeiter auf, um das Möbel in die Kehrichtverbrennung zu fahren. Später wurde mir als letztem von uns Kindern das schöne, wirklich ansehnliche Schlafzimmer Brasilia angeboten. Nun hatte ich den Mut, Nein zu sagen, Mami war etwas mehr als pikiert und es löste bei ihr einen gehässigen Kommentar aus. Wenige Jahre später kaufte Papi zwei gefällige und praktische Fernsehfauteuils. Ein bisheriger Sessel wurde in den Tanzsaal verschoben, und der andere blieb übrig, weil ihn wiederum keine Seele wollte. Einmal mehr wurde ich als Letzter angefragt. Da es in Unterentfelden keine Katzen gab, stimmte ich zu.
Obwohl wir meine Eltern zigmal zu uns nach Winkel eingeladen hatten, sind sie nie gekommen. Auch nicht, nachdem Papi seinen Führerausweis zurückgegeben hatte, und ich Peter mehrmals gebeten hatte, die Eltern zu chauffieren. Ihm selbst und seiner Familie hatte ich ebenfalls mehrfach angeboten, mal bei uns reinzuschauen. Peter kam nie und auch nicht die Familie meiner Schwester.
Von 1999 bis 2009 sang ich im Männerchor unseres Dorfes. Jährlich habe ich meine Eltern und Geschwister eingeladen, nach Winkel zu kommen, wenn wir den gesanglichen Höhepunkt des Jahres darboten. Sie erschienen nie zu diesem Anlass, obwohl sie es mir mehrfach versprochen hatten.
Ich habe nie einen netten Brief von Mami oder Papi erhalten, zu gerne hätte ich ihn aufbewahrt. Wenn ich meine Eltern an ihren Geburtstagen nicht besuchen konnte, weil sie abwesend waren, habe ich ihnen stets einen längeren Brief geschrieben. Von Mami habe ich regelmässig - auch noch nach meiner Enterbung - zum Geburtstag eine Karte erhalten, unterschrieben mit "Papi und Mami".
Für Dienstag, 28. Dezember 1999, waren Edith und ich von Mami eingeladen worden. Edith weigerte sich einmal mehr, mich zu begleiten. Als ich bei meinen Eltern eintraf, fragte mich Mami wieder, ob das die Retourkutsche für den 9. September sei (als wir heirateten und sie nur zum Apéro gekommen waren)? Wir fuhren zum Lunch ins Restaurant Mürset in Aarau. Während des Essens bemerkte Papi, dass Peter sein Haus in Unterentfelden erhalten und darin wohnen werde, wenn sie beide gestorben seien. Er habe das Haus mit den 3'500 m2 Land schätzen lassen und fragte, wieviel ich vermuten würde. Ich überlegte einen Moment und antwortete: "Drei Millionen." Er sagte: "Schön wär's, leider nur zwei Millionen Franken." Was 570 Franken pro m2 entsprach und ich als zu tief angesetzt betrachtete. Papi sagte im Verlauf meines Besuches, die Wega Immobilien AG werde an seine beiden Kinder übergehen. Dass er damit Lisbeth und Peter meinte, musste er nicht erwähnen. Weiter sagte mir Papi, dass Peter bei seinem Umzug vier Gartenmaschinen gehabt habe, die er nicht mehr brauchte, für die sie kaum einen Abnehmer gefunden hätten und deshalb nicht wussten, wohin damit. Ich verdrehte die Augen und sagte, ich hätte für mein vor wenigen Wochen bezogenes Haus noch keine Gartengeräte und würde diese im nächsten Frühling anschaffen. Als ich die Eltern am späteren Nachmittag verliess, übergab mir Papi zwei C-5 Couverts mit der Bitte, diese beim Bankverein in Aarau einzuwerfen. Darin seien 102 Einzahlungsscheine für Spenden an gemeinnützige Organisationen, er tue dies zweimal jährlich.
KAPITEL 28
Ich habe Papi kaum je ein Buch lesen sehen. Zu mir und Edith sagte er einmal bewundernd, wie ich so dicke Wälzer lesen könne, sie seien ihm zu unhandlich. Im Fauteuil las er regelmässig Zeitungen. Für die Zeitschriften hatte er eine extra Haltevorrichtung aus Plexiglas – auch im Schlafzimmer. Er las den Tages-Anzeiger, das Aargauer Tagblatt, die Schweizerzeit, den Stern, die Bunte, die Quick, anfänglich Sie und Er, ab 1971 die Schweizer Illustrierte. Der Nebelspalter dürfte das Höchstsinnigste gewesen sein. Im Geschäft las Papi den Blick und den Playboy. In der kleinen, bescheidenen Bibliothek meiner Eltern habe ich Klassiker schmerzlich vermisst. Keine Welt-, Hoch- oder gehobene Unterhaltungsliteratur, nur Triviales. Den geringsten literarischen Anspruch hegte Mami. Ihre Lektüre beschränkte sich auf das Niveau eines Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik und immer wieder Rosamunde Pilcher sowie die Romane, nicht etwa Sachbücher oder Erzählungen, von Utta Danella. Ausserdem las sie Hunderte von Arztromanen, Kitschromanen und mehrfach die Biographien einer Nadia Tiller, Maria Schell, Ruth Leuwerik, Lilli Palmer oder Hildegard Knef usw. Ab 1993 kam Donna Leon hinzu. Ich habe Mami nie, nie eine Zeitung lesen sehen. Meine Eltern waren Anfang 40, als sie begannen, Unmengen von Kreuzworträtseln zu lösen. Hierzu Prof. Max Lüscher: "Man löst Kreuzworträtsel, um sich von den Sorgen abzulenken." (Signale der Persönlichkeit, S.159) Papi kannte diesen Dozenten, der im Geschäft in Suhr gelegentlich Referate vor dem Direktorium gehalten hatte. Ich durfte Papi einmal an einen Vortrag nach Zürich begleiten. Vermutlich haben Mami und meine Geschwister Papi eine Absage erteilt, deshalb fiel die Wahl auf mich, und ich fühlte mich fälschlicherweise sogar geehrt.
Zu Papis 80. Geburtstag gab es ein Mittagessen beinahe en famille im Restaurant Jura in Stüsslingen. Sheridan konnte nicht teilnehmen, weil sie seit einigen Tagen im Spital war. Sie hatte zu wenig Blut und erhielt Transfusionen. Muriel fehlte und weil Lisbeth teilnahm, streikte Peter.
Am Pfingstsamstag 2002 waren wir bei den Eltern zu Kaffee und von Edith gebackenem Gugelhupf eingeladen. Nach seinem zweiten Stück bemerkte Papi, dass ich vom Kuchen nichts gegessen hätte und langte nach seinem dritten. Es folgte eine mühsame Unterhaltung über die weitere Verwandtschaft und die Nachbarn, die ich zum Teil wegen Neuzuzug nicht kannte. Nichts über unsere Familie, auch nicht darüber, dass zum Beispiel Heinz mit 56 Jahren kürzlich die Nestlé verlassen hatte. Er ging freiwillig vier Jahre früher in Pension als Papi. Wiederum betonte Papi, dass alle Adoptivkinder von Nani mindestens einmal geschieden seien. Papi wusste stets schadenfreudig zu erwähnen, dass es in der Familie Pfister seit Opapa nur bei adoptierten oder angenommenen Kindern (danke für meine Erwähnung!) zu Scheidungen gekommen sei. Peter machte ihm dann aber einen fetten Strich durch seine "Erfolgsbilanz". Als ich gegenüber Tante Susy und ihrem Ehemann Beny Papis mehrfache Bemerkung erwähnte, sagte sie, er habe sich auch gegenüber Nani diesbezüglich einmal geäussert und sei damit bei seiner Stiefmutter sehr schlecht angekommen.
Am Sonntag, 20. Oktober 2002, erhielt ich einen Telefonanruf von Mami. Sie teilte mir mit, dass Peter in Scheidung sei und mit den Kindern bei ihnen wohne. Sie machte Sheridan schlecht, wie man sie überhaupt nur schlecht machen kann. Ich hielt zu Peter und schrieb ihm am nächsten Tag und Mitte Dezember je einen Brief zum heiklen Thema Scheidung. Nicht weil ich wusste, dass er ein pflegeleichter, liebevoller, umgänglicher Ehemann war, sondern obwohl ich wusste, dass er kein pflegeleichter, liebevoller, umgänglicher Ehemann war. Lediglich aus familiärer Zusammengehörigkeit, ganz nach dem Motto: Zuerst die Familie, denn die Familie ist ausgesprochen wichtig, egal, was passiert. Die lässt man nicht im Stich. Als Peter mit seinen beiden Kindern in Unterentfelden einzog, bekamen beide nach ihrem Geschmack neue Zimmereinrichtungen, die von Papi bezahlt wurden, wie mir Lisbeth neidisch berichtete.
Am 10. Mai 2003 erzählte Papi, dass Peter und die Kinder Anfang Juli endlich ein Haus in Muhen beziehen werden. Mami und er hätten sich den Auszug viel früher gewünscht. Danach werde Peter mit den Kindern und Elisabeth Odersky die Ferien in Kanada verbringen. Nach seiner Rückkehr werde sich Frau Kleiner [Haushälterin meiner Eltern] um die Kinder kümmern, für diese kochen und den Haushalt machen. Mami sei sehr oft müde, geradezu erschöpft. Sie hätten von Peter für die Zeit als er bei ihnen wohnte für Kost und Logis nichts verlangt, Peter habe allerdings auch nichts anerboten und ihre Darreichungen als selbstverständlich betrachtet, wie auch ansonsten vieles. Von Oktober 2002 bis Juni 2003, also 9 Monate lang, war Peter mit dem energiegeladenen 11jährigen Kevin und der etwas ruhigeren 8jährigen Kim bei den Eltern beherbergt. Unsere Eltern waren zu jenem Zeitpunkt 83 Jahre alt. Bereits im Januar 2003 hatte sich Lisbeth bei mir schriftlich darüber entrüstet, dass Peter und die Kinder bereits seit drei Monaten bei den kränklichen Eltern wohnten und die wilden Kinder diesen sehr zur Last gingen.
Der 25. August 2004 war ein Mittwoch. Mein 50. Geburtstag. Lisbeth und Heinz kamen mit dem Intercity kurz vor 11 Uhr im Hauptbahnhof Zürich an. Wir hatten uns zum Mittagessen verabredet. Sie reisten um 12.10 Uhr weiter in ihr Ferienhaus nach Bever. Lisbeth hatte mich nicht gefragt, ob wir Zeit für sie hätten, denn ein Anlass wie der 50. Geburtstag benötigt doch einige Vorbereitungen. Der Besuch war ganz sicher nett gemeint, doch nahm er mit der Hin- und Rückfahrt drei Stunden unserer knappen Zeit in Anspruch. Die beiden kamen mit leeren Händen, mich zu beglückwünschen. Als es ums Zahlen ging, machten die Besucher keine Anstalten, uns einzuladen. Das Geburtstagskind übernahm die Zeche.
KAPITEL 29
Edith mochte die kalte Jahreszeit nicht. Also flogen wir meist von Mitte Dezember bis Mitte Januar an einen Ort mit mindestens 30 Grad Wärme. Sie meinte, dieser Monat würde ihr guttun und den Winter erheblich verkürzen. Der 26. Dezember 2004 begann wie die vorherigen Tage. Spätes Frühstück auf der Hotelterrasse bei angenehmer Temperatur. Weil ich die Sonne nicht gut vertrage, begab ich mich anschliessend - wie seit Jahren - auf das Hotelzimmer und Edith an den ruhigsten der drei Pools. Geplant war eigentlich ein Ausflug mit kleinen Booten in irgendwelche Höhlen mit messerscharfen Muscheln an den Wänden. Weil wir von Exkursionen der letzten Tage etwas ermüdet waren, verschoben wir diese Aktivität auf den nächsten Tag. Dazu kam es dann allerdings nicht mehr. Um 10.25 Uhr brach der Tsunami auch über unser Hotelanwesen in Phuket, Thailand, herein. Es machte sich bezahlt, dass wir stets grosszügige Trinkgelder verteilten. Der uns zugewiesene Kellner war immer sehr aufmerksam, behielt uns stets im Auge und las uns die Wünsche beinahe von den Lippen ab. Als er die Flutwelle realisierte, die ein Getöse wie eine Schneelawine verursachte, rannte er zu Edith, ergriff ihre Hand und Tasche, riss sie aus dem Liegestuhl und hastete mit ihr hinter unser Hotel, welches gute acht Meter über dem Meeresspiegel lag und aus Beton, nicht wie üblich aus Holz, gebaut war. Ich war in das Buch Die Betrogene von Thomas Mann vertieft und bekam hinter den lärmdämmenden Fenstern nichts mit. Plötzlich erklangen sich überschlagende Stimmen vom Gang her, und ich ging raus. Edith kam mir weinend entgegen, und wir begaben uns auf die Hotelterrasse im zweiten Stock. Das Management liess mitteilen, dass für 13 Uhr mit einer noch grösseren Flutwelle zu rechnen sei. Alkoholische Getränke wurden nicht mehr ausgeschenkt, da die Hotelleitung keine Betrunkenen haben wollte, sollte es tatsächlich noch schlimmer werden. Es kam zu zwei weiteren kleineren Tsunamis, die Edith mit der Kamera festhielt. Als um 15 Uhr Entwarnung gegeben wurde, begaben wir uns in das Hotelareal und betrachteten die Verwüstung. Es sah aus wie nach einem Hurrikan. Alles war durcheinander und unter Schlamm. Drei Restaurants und zwei Bars aus Holz waren vollständig zerstört. Ein riesiger Felsen, der den Kindern als Kletterobjekt diente, war um einige Meter verschoben. Die schweren, von Menschenhand nicht versetzbaren Doppelholzliegen lagen zum Teil im Pool oder sonstwo. Unser grosses Hotel war terrassiert und bananenförmig angelegt. Die Hotelzimmer am Ende der Banane waren total demoliert, die französischen Fenster eingeschlagen und sämtliches Mobiliar herausgespült im Garten verteilt. In unserem Hotelanwesen waren gemäss Direktion keine Toten zu beklagen, aber verschwundene Gäste, die einen Ausflug aufs oder ins Wasser unternommen hatten und nicht mehr zurückkamen. Wir begegneten mehreren Verletzten. Umgehend haben wir Lisbeth und Peter (meine Eltern hatten nie ein handy) sowie unseren Freunden eine Sammel-SMS geschrieben, dass wir wohlauf seien und erhielten von allen erleichterte Reaktionen – nicht so von meinen Geschwistern. Am Abend waren in der Hotel-Lobby bereits erste Ständer aufgestellt, an denen Fotos von Vermissten prangten. Menschen suchten ihre Angehörigen; deren wurden es in den nächsten Tagen immer mehr. Es wurde Geld gesammelt, und ich übergab 1'000 Franken. Nach drei Tagen waren ca. 20 Männer und Frauen des Technischen Hilfswerks (THW) mit Hunden vor Ort. RTL belegte mit Reportern und Moderatoren einen grossen Saal im dritten Stock. Sie benahmen sich ziemlich ungebührend und fielen durch ihren überaus grossen abendlichen Alkoholkonsum auf. Etwa 80% der Gäste reisten innert drei Tagen ab. Wir blieben jedoch, weil wir der Meinung waren, dass gerade jetzt unsere Unterstützung in jeder Hinsicht notwendig sei. Sukzessive wurde unser Hotel mit Verletzten belegt, die ärztlich versorgt worden waren und kein Hotel mehr hatten.
Ich durfte Muriel und Joëlle während 20 und mehr Jahren ein liebevoller, interessierter, briefeschreibender, anteilnehmender, grosszügiger Onkel sein. An Geburtstagen und Weihnachten habe ich stets Geschenke überbracht oder gesandt. Bei jeder persönlichen Zusammenkunft erhielten sie eine Banknote, die mit zunehmendem Alter stets grösser wurde. Bei Joëlle war ich als Götti im Gespräch, doch hatte ich bereits vier Patenkinder und meine Frau Selma noch keines. Als Gotte war noch niemand angefragt worden, also erhielt sie das Mandat, und ich wurde Joëlles "Lieblingsonkel", wie ich von ihr mehrmals lesen durfte, was mich hoch erfreute.
Ich war bereits über 50 Jahre alt, als Mami noch immer wie eh und je unter dem Esstisch Papi stupste, wenn er etwas zu erzählen anfing, von dem Mami befand, dass es mich nichts anginge. Jedes Mal war es für mich eine schmerzende, weil persönliche Kränkung, denn einmal mehr musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ich noch immer nicht wirklich zu dieser Familie gehörte. Mami übernahm dann das Gespräch mit einem vorbereiteten Satz und lenkte dieses in eine ganz andere Richtung. Auch fiel es mir jeweils alles andere als leicht, die Telefonnummer der Eltern zu wählen, um mich zu melden und zu erfahren, wie es ihnen ginge. Mit Papi wusste ich nicht was reden, er begrüsste mich meist mit den Worten: "Hoi Fridel, was wotsch?", reichte mich nach wenigen kurzen Sätzen an Mami weiter und verabschiedete sich mit "Tschau, Peter". Vielleicht verwechselte er mich tatsächlich mit Peter, der schliesslich regelmässig etwas von Papi wollte, nämlich Geld.
Zu Papis 85. Geburtstag fand ein Tag der offenen Tür statt. Von der Familie fehlte einzig Muriel. Daneben zählte ich lediglich drei befreundete Personen. Das Buffet war riesig, und ich konnte mir nicht vorstellen, wer das alles essen sollte. Da hatte ganz bestimmt Peter seine Finger im Spiel gehabt. Einmal mehr jenseits der Realität.
Zu Mamis 86. Geburtstag kaufte ich in der Autobahnraststätte Würenlos feierliche Blumen. Ich war einmal mehr alleine bei den Eltern. Obwohl es der freie Arbeitstag von Edith war, wollte sie mich nicht begleiten. Der leidige Hochzeits-Apéro-Event war ihr unverzeihlich. Im Esszimmer tranken wir Kaffee, Mami und Papi assen Kuchen. Wie üblich begab sich Papi nach dem dritten Stück ins Wohnzimmer, ich blieb bei Mami am Tisch. Als das Telefon läutete und ihr jemand gratulieren wollte, ging ich zu Papi. Er las den Stern. Da ich kürzlich die 10'000 Seiten umfassenden Tagebücher von Thomas Mann vollendet hatte, fragte ich Papi, ob es ihn interessieren würde, wie Thomas Mann die Firma Möbel Pfister wahrgenommen habe. Papi drehte leicht seinen Kopf, sah mich über seine Brillengläser hinweg an, seine Mine verdüsterte sich, und ohne mir eine Antwort zu geben, wandte er sich wieder der Illustrierten zu. Der Rauswurf vor 25 Jahren musste ihn noch immer heftig schmerzen. Das hatte ich nicht bedacht, wollte ihm einfach eine Freude bereiten und kurzweilige Informationen zukommen lassen. Ich blieb auf dem Sofa sitzen und schaute zu den Fenstern hinaus, die farbenfrohen Auswirkungen des Herbstes auf unseren Garten betrachtend. Nach wenigen Minuten sagte Papi, Elisabeth Odersky (er nannte sie immer beim ledigen Namen) sei nicht ohne und habe verfügt, dass Peter sie in ein Konzert nach Zürich begleite. Mami müsse die Kinder hüten gehen. Peter würde wenig Rücksicht auf ihr fortgeschrittenes Alter nehmen und ihnen schon seit Jahren zu viel zumuten.
Am Karfreitag 2006 besuchten wir die Eltern. Weil Papi seinen Führerausweis kürzlich zurückgegeben hatte, steuerte ich erstmals sein Auto zum Mittagessen ins Restaurant Schützen in den Schachen, Aarau. Während des Lunchs und eines Gesprächs mit Mami schnappte ich auf, wie Papi Edith fragte, ob ich das Haus gemietet hätte. Sie antwortete ihm, ich hätte es vor sieben Jahren gekauft. Auf der Heimfahrt erzählte mir Edith, Papi habe ihr mitgeteilt, dass Heinz für ihn nun das Finanzielle erledige. Er habe ihm Vollmacht gegeben, und die Steuererklärung fülle nun die Bank aus. Weshalb sagte er ihr das? Weshalb übertrug er diese Aufgabe an Heinz und nicht an mich, der ich im zweifachen Sinne, nämlich fachlich und örtlich dafür wie geschaffen war? Kurze Zeit später berichtete mir Papi, dass er Heinz, den Frühpensionierten und mittlerweile 60-Jährigen, als seinen Privatsekretär engagiert habe. Heinz lasse sich für seine Bemühungen fürstlich entlöhnen, vorzugsweise in bar. Ob er hierauf Steuern bezahle, wisse er, Papi, nicht, vermutlich aber eher nicht.
Am Telefon erzählte mir Papi am 3. Januar 2007, er habe das Haus in Märstetten an Vreneli (er nannte die Schwester von Mami nicht Vreni oder Verena, sondern stets Vreneli) für monatlich 600 Franken bis Lebensende vermietet. Dass Papi mir dies mitteilte, war vielleicht auf den Umstand zurückzuführen, dass er kürzlich wieder einmal eine Rechnung für die kumulierte Schenkungssteuer erhalten hatte. Der Eigenmietwert sei auf monatlich 2'200 Franken festgelegt worden und er müsse die Differenz als Schenkung versteuern. Papi hatte sich sehr darüber aufgeregt, dass er für seine Grosszügigkeit bestraft werde und zweimal zu Schaden komme, einmal durch die entgangene Mietdifferenz zur üblichen Marktmiete und zum Zweiten durch die zu entrichtende Steuer. Bei mir dachte ich: Das hätte man auch schlauer anstellen können! Diese Vermietung kann nicht neu gewesen sein, denn ich erinnere mich, als kleiner Junge zumindest einmal mit den Eltern dort am Höhenweg 22 gewesen zu sein. Mir war aufgefallen, dass die Drehwahlscheibe des schwarzen Tischtelefons mit einem kleinen Vorhangschloss arretiert war. Zu Hause habe ich auf meine Entdeckung eine Antwort bekommen, ausnahmsweise blieb mir Mami diese nicht schuldig. Sie erklärte, das sei auf die Sparsamkeit von Vrenis Ehemann Hans Pengler zurückzuführen; sie müsse Vreni stets telefonieren, damit dieser keine Kosten entstünden.
13. Mai 2007 war Muttertag. Wir brachten einen von Edith gebackenen russischen Zupfkuchen und ein grosses Blumengebinde mit und sassen bei prächtigem Wetter draussen. Mami und Edith gingen in die Küche, und Papi sagte mir, dass er das Land im Tessin, gemeint war Carona, immer noch besitze. Lisbeth sei daran nicht interessiert, das könnten dann Peter und ich im Erbgang unter einander ausmachen, es sei 3'000m2 gross und dürfe unter gewissen Auflagen überbaut werden. Der m2-Preis betrage 600-800 Franken. Peter komme mit dem Geld nicht aus, sei noch nie damit ausgekommen. Der zweite Bildungsweg, sein missglücktes Universitäts-Engagement in Zürich, das extensive Studium in Kanada und die extrem vielen und unnötigen Reisen hätten ihn sehr viel Geld gekostet, da seien mein Internatsaufenthalt und mein HWV-Studium ein Klacks dagegen gewesen. Elisabeth Odersky sei für ihn und Mami eine unerwünschte Person. Sie lasse sich zu viel von Peter bezahlen, wie z.B. eine neue, übertrieben luxuriöse Küche. Peter lege immer seine Hände unter ihre Füsse, lasse sich ausnutzen und nach Strich und Faden gebrauchen. Er, Papi, müsse das auf mehrere Jahre mit 40'000 Franken jährlich veranschlagte Internat des Rabauken Kevin bezahlen. Er habe Peter nur auf Mamis Verlangen weiterhin unterstützt. Peter sei eben ihr Lieblingskind, so wie Lisbeth seines sei. Später trafen Peter und Kim ein, sie hatten Kevin im Internat besucht und einen Ausflug unternommen. Bevor wir uns auf den Heimweg machten, vereinbarte ich mit den Eltern und Peter, dass sie uns nun endlich einmal besuchen kommen sollten. Dies wurde uns von allen dreien wiederholt zugesichert, aber nie eingehalten.
Im Dezember 2007 waren meine Frau und ich mit einem länglichen Blumengewächs bei Mami in der Hirslanden Klinik im Aarauer Schachen. Sie war nach einem Schwächeanfall vor zwei Tagen eingeliefert worden. Anschliessend fuhren Edith und ich zu Papi in die Höhenklinik Barmelweid. Sein Arzt hatte ihm wegen Atemaussetzern eine Kur empfohlen. Papi sagte, Peter werde etwas für Weihnachten organisieren. Wir kamen irgendwie auf seinen Garten in Unterentfelden zu sprechen, und er erwähnte, allein der Gärtner koste ihn jährlich 70'000 Franken.
Am Sonntag, 24. August 2008, besuchten wir meine Eltern mit einem Schokoladekuchen. Als Mami, Edith und ich im Garten beim Fischteich waren, sagte Mami zu mir, ich solle schauen gehen, ob der Feigenbaum Früchte trage, und die beiden spazierten in Richtung Gartensitzplatz zurück. Mami hatte sicherlich einen guten Grund, mich wegzuschicken. Entweder wollte sie Edith etwas fragen oder ihr etwas mitteilen, das nicht für meine Ohren bestimmt war, denn ob der Feigenbaum Früchte trage, war nur ein Vorwand. Dieser ist von mehreren Zimmern des Hauses sehr gut sichtbar. Da trat Papi aus dem Haus, er konnte mich nicht sehen, und rief: "Ist Fritz im Haus am Inspizieren?" Nicht einmal Mami beantwortet seine unnötige und boshafte Unterstellung. Übrigens: Der Feigenbaum trug keine Früchte. Papi schenkte mir zu meinem morgigen Geburtstag eines von etwa 20 selbst gebastelten identischen Vogelhäuschen Marke 0815. Die beiden wirklich schönen und aufwendigen waren für seine beiden Kinder reserviert. Habe ich etwas Ähnliches nicht schon früher mal erlebt? Ach ja, die Schlitten. Von diesen habe ich am 9. Februar 2014 Fotos mit der von meiner Frau geliehenen Kamera gemacht.
KAPITEL 30
Unter der Federführung von Mami hatten sich Lisbeth und Peter auf wundersame Weise im Frühling 2009 zusammengefunden und bilden bis heute ein gleichgesinntes, erfolgreiches Gespann. Die Beziehung war zuvor immer gespalten, geradezu spinnefeind gewesen. Sie hatten einander nichts, weder auf der Gefühls- noch auf der persönlichen Ebene, zu sagen. Lisbeth hatte für Peter während Jahrzehnten nur am Rande existiert und umgekehrt. Ich war jeweils der Verbindungsmann für interne Nachrichten gewesen. Diese Geschwisterrivalität blieb mir stets ein Rätsel und der Grund unbekannt, ich habe es nie verstanden.
Im Brief vom 6. Mai 2015 fragte ich Lisbeth: "Seit wann bist du mit Peter vereint, verbunden? Was war ausschlaggebend? Wir alle wissen, dass er dich, ihr euch während Jahrzehnten nicht vertragen habt, nicht mochtet, keinen aktiven Kontakt pflegtet." Sie schrieb mir am 19. Mai 2015 bockig: "Ich bin der Meinung, dass ich niemandem Rechenschaft schuldig bin, warum und wie ich meine Beziehungen gestalte." Sie mussten 60 und 58 Jahre alt werden, bis sie sich vertrugen und Kontakt knüpfen konnten. Doch sie hatten schliesslich einen wichtigen Beweggrund und ein lukratives Ziel. Geldgier war ein überzeugendes, geradezu verständliches Motiv – zumindest aus ihrer Sicht, wie sich beweisen sollte –, und war ihnen wichtiger als die weitere Pflege unserer Freundschaft. Zu dritt drängten sie Papi, sein Testament im hohen Alter von 89 Jahren neu aufzusetzen und mich darin mit keinem Wort zu erwähnen, obwohl aufgrund früherer Schriftlichkeiten und wiederholten mündlichen Zusagen wir drei Kinder zu gleichen Teilen erben sollten. “Wenn betagte Familienmitglieder im hohen Alter plötzlich ein neues Testament aufsetzen, so gilt es genau hinzuschauen. In vielen Fällen wird dann nämlich die Willensschwäche oder eine Krankheit des Erblassers ausgenutzt.” (Handelszeitung 11.1.2018) Da ich meinen Eltern und Geschwistern leider keinen gesetzlichen, moralischen oder anderweitigen Grund für eine Verurteilung dieser Tragweite geliefert habe, konnten sie ihn mir auch nicht nennen und hatten Schwierigkeiten, mit mir hierüber zu sprechen. Stattdessen kappten sie den Kontakt zu mir fast vollständig. Ich habe meinen Eltern und meinen Geschwistern nichts angetan, keine Schande bereitet, die ihre Reaktion rechtfertigen würde. Ob man da meine vergangenen 51 Jahre bei der Familie Pfister noch objektiv Revue passieren lassen kann? Bei Papi im Alter von 60 Jahren wäre ihnen dieser Coup nicht geglückt. Da mussten sie einen günstigen Moment im beträchtlichen Alter abwarten. Wenn sich Lisbeth und Peter gegen Mamis Ansinnen gestemmt hätten, wäre es zu keiner Testamentsänderung gekommen und ihre Erbschaft einige Millionen weniger hoch ausgefallen. Mami hat ihr Testament nicht ändern müssen, denn darin war ich ganz bestimmt nicht aufgeführt. Mami war nie für mich, sondern vor allem gegen mich da gewesen. Dass Lisbeth und Peter unseren Papi zu dieser Missetat gedrängt haben, bezeugen auch die Tatsachen, dass sie 1.) vor dem Bezirksgericht das Testament nicht angefochten haben mit der Darlegung, es handle sich um einen Fehler unseres Vaters, er habe uns dreien gegenüber mehrfach schriftlich und noch öfter mündlich eine Gleichstellung in seinem Testament erwähnt und es gebe keine Erklärung, dieses zu ändern und mich auszuschliessen, ich hätte schliesslich schon in jungen Jahren adoptiert werden sollen, so dies möglich gewesen wäre. 2.) auf mein Ersuchen nicht bereit waren, mich finanziell zu unterstützen. Obwohl ich kein neugieriger Mensch bin, würde es mich doch interessieren, wie Lisbeth und Peter ihr Vorgehen gegenüber ihren Kindern rechtfertigten.
Nach der Enterbung 2009 haben Papi und Peter den Kontakt zu mir vollständig abgebrochen. Um mich nicht auf die richtigen Gedanken zu bringen, hatte mir Mami weiterhin zum Geburtstag geschrieben, und mit Lisbeth blieb das Zwischenmenschliche erhalten, wenn auch auf einem bedeutend niedrigeren Feuerchen. Ich wäre auch mit einer kleineren Erbschaft von weniger als dem Pflichtteil einverstanden gewesen, da ich ungewollt keine Kinder habe. Aber rein gar nichts zu erhalten, ist schon etwas wenig. Ich stelle mir die Frage nach der Verhältnismässigkeit des Erbausschlusses und der ungerechtfertigten Bereicherung meiner Geschwister.
Lisbeth weiss seit März 2009, dass meine Eltern nach meiner Enterbung ein schlechtes Gewissen plagte und sie es nicht mehr ertragen konnten, weiterhin mit mir Kontakt zu pflegen. Trotzdem schrieb sie mir mehr als einmal, z.B. im Brief vom 24. August 2010: "Kontakthaben ist nicht nur eine Bring- sondern auch eine Holschuld". Ich habe den Eltern nach deren Kontaktabbruch erfolglos telefoniert und weiterhin geschrieben und die Verbindung gesucht, aber vergeblich.
Zum Thema Kontakthaben das Folgende: Aufgrund meiner Telefonnotizen ist festzustellen, dass ich den Eltern bedeutend mehr telefonierte als sie mir. Papi hat mir nach meinem Auszug aus dem Elternhaus 1972 keine dreimal telefoniert. Bezüglich Besuche von Eltern und Geschwistern an meinen Wohnorten:
Landschulheim Oberried in Belp 1966 – 1970: Eltern einmal, Lisbeth nie, Peter einmal mit den Eltern,
Tannwaldstrasse in Olten 1973: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter nie,
Solothurnerstrasse in Olten 1973: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter einmal,
Grand Avenue, Muswell Hill, in London 1974: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter nie,
Badstrasse in Gränichen 1974 + 1975: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter oft,
Winkelweg in Gränichen 1976 – 1979: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter oft,
Köchlistrasse in Zürich 1979 – 1984: Eltern einmal, Lisbeth nie, Peter oft,
Steinhaldenstrasse in Zürich 1984 – 1996: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter mehrmals,
Laubholzstrasse in Erlenbach 1996 – 1999: Eltern nie obwohl sie Opapas und Nanis Testamentsvollstrecker Heinz Moser in Erlenbach öfters visitierten. Lisbeth nie, Peter nie,
Rigistrasse in Winkel 1999 – 2014: Eltern nie, Lisbeth nie, Peter nie,
Im Baumgarten in Frauenfeld 2014 - 2019: Eltern verstorben, Lisbeth nie, Peter nie,
Vogelsangstrasse in Weinfelden ab 2019: Lisbeth nie, Peter nie.
Gesamthaft habe ich sie in diesen fünf Jahrzehnten im dreistelligen Bereich aufgesucht! Ich war mir dessen gar nicht bewusst, aber offensichtlich wurde vor allem erwartet, dass ich meine Familie besuche und nicht umgekehrt.
In meinem Leben habe ich enorm viel Geld gespendet, guten Zwecken zugeführt, habe gesponsort, konnte nicht Nein sagen, musste als Gönner einschreiten, konnte, durfte, wollte nicht wegsehen, musste einfach helfen wo Not am Mann war, Linderung bedurfte. Ich war ja der Überzeugung, dass meine Geschwister und ich eines Tages ein Erbe im zweistelligen Millionenbetrag antreten dürften und wollte entsprechend hilfsbereit und grosszügig sein. Dieses Geld wird mir in Zukunft fehlen. Gemäss Finanzplan wird es bald eng werden. Wir waren gezwungen, uns nach einer preiswerten Wohnung umzusehen und sind zwischenzeitlich von Frauenfeld nach Weinfelden an die Vogelsangstr. 11 umgezogen. Auch mussten wir unsere zwei Fahrzeuge verkaufen und einen günstigen VW anschaffen. Eigentlich wollte sich meine Frau vorzeitig pensionieren lassen, doch dieser Wunsch blieb unerfüllt, jetzt sieht es nach dem Ruhestand mit 65 Jahren aus, obwohl sie fast ihr ganzes Berufsleben einen 100% Job bekleidete. Ob meine Geschwister auch so viel Geld gespendet haben? Bei Lisbeth vermute ich das in einer bedeutend bescheideneren Grössenordnung. Bei Peter kann nicht davon ausgegangen werden, weil seine Einnahmen aus der Praxis nicht einmal für die privaten Lebenshaltungskosten reichten. Miete für die Praxis musste er keine bezahlen, denn Papi hatte den Kauf und die Einrichtung finanziert und ihm geschenkt.
Am 14. März 2013 war in meiner Post ein Couvert, enthaltend einen Fresszettel von Papi mit Datum vom 11. März 2013: "Lieber Fritz Unser Mami ist am Mittwoch, 6. März leider von uns gegangen. Mami und ich wünschten, dass Du auf die Teilnahme an der Abdankung verzichtest und dann später mit Lisbeth und Peter Kontakt aufnimmst. Wir erwarten, dass Du unseren Wunsch respektierst. Papi"
Tief betroffen und getroffen nahm ich zur Kenntnis, dass Papi nicht bereit war, diesen Wunsch zu erklären. Mich von der Beerdigung der Person auszuschliessen, der ich 55 Jahre lang Mami sagen durfte, ist unverzeihlich und unbegreiflich. Hingegen ist es lobenswert taktvoll von Papi, dass er mir schriftlich bescheinigt, dass "unser Mami" auch meine Mami war. Diese Notiz traf mich gänzlich unvorbereitet und ohne Begründung. Die Todesursache von Mami wurde mir weder von Papi noch meinen Geschwistern mitgeteilt. Von diesen neun Monate später auch nicht den Todesgrund von Papi. Noch heute weiss ich nicht, woran die beiden verstorben sind. Weil ich zu wissen glaubte, dass Mami nicht kremiert werden wollte und Erdbestattungen innert fünf Tagen vollzogen sein müssen, ging ich davon aus, dass Mami schon beerdigt worden sei. Nachdem ich mich vom grössten Schock einigermassen erholt hatte, schrieb ich Papi, ohne jemals eine Reaktion oder Antwort zu erhalten. Da Papi mir mitgeteilt hatte, ich solle mit Lisbeth und Peter Kontakt aufnehmen, hatte dies sicher seine Ursache. Ich nahm deshalb mit Lisbeth und Peter schriftlich Kontakt auf und fragte an, was Papi wohl gemeint haben mochte. Die beiden gingen auf diese und weitere Fragen wie z.B. - wo Mami begraben liege - nicht ein.
Am 19. März 2013 schrieb ich meinem Bruder eine e-mail in die Praxis und machte vier Terminvorschläge für einen Besuch bei ihm in Wohlen, denn ich kannte seine neue Privatadresse nicht. Die mail blieb unbeantwortet.
Da ich weder von Papi noch von Lisbeth oder Peter eine Todesanzeige erhalten hatte, entschloss ich mich sechs Monate später, von der Aargauer Zeitung die publizierte Todesanzeige zu besorgen. Gemäss Frau Hannhart war diese am 14. März erschienen. Ich erschrak nicht wenig, als ich lesen musste, dass Lisbeth und Peter mit Familie einzeln namentlich aufgeführt wurden, während mein Name fehlte.
Bei meinem Ausschluss auf der Todesanzeige und von der Beerdigung konnten sich meine Geschwister hinter Papi verstecken. Beide schrieben mir, es wäre seine Entscheidung gewesen, sie waren damit nicht einverstanden, und das wisse er auch.
Am 15. Juli 2013 heirateten Bigi und ich im romantischen Venedig. Von den schriftlich avisierten Geschwistern sowie Papi erfolgte keine Rückmeldung.
Ich schrieb meinen Geschwistern bittend, mich beim Tode unseres Vaters zu informieren, weil ich an der Beerdigung dabei sein möchte. Ich erhielt keine Zusage und war vorsichtshalber gezwungen, die elektronische Online-Version der Aargauer Zeitung ab August 2013 für ein Jahr zu abonnieren, um die Todesanzeige mit Beisetzungsdatum und -zeit keinesfalls zu verpassen.
Am 17. Dezember 2013 rief mich Lisbeth vom Apparat der Eltern an und teilte mir mit, dass Papi heute Morgen zu Hause gestorben sei. Nach einer Pause und einem tiefen Seufzer bedankte ich mich, dass sie mich informiert hatte und fragte, ob ich an der Beerdigung teilnehmen dürfe. Lisbeth antwortete mit “Ja”. Sie habe ihr Bestes gegeben, aber es sei ihr bewusst, auch Fehler gemacht zu haben. Wegen der Festtage würde die Beisetzung erst im Januar stattfinden. Ich bot meine Zeit und Bereitschaft an und fragte, ob ich etwas helfen könne.
Nach dem Tod von Papi sassen Lisbeth, Peter und ich nicht zusammen, wie eigentlich üblich, um das weitere Vorgehen zu besprechen und zu organisieren. Ich wurde behandelt wie eine nicht dazugehörige Drittperson, wurde von meinen Geschwistern ausgeschlossen. Mir wurden bei den Todesfällen unserer Eltern keine Kondolenzschreiben zur Ansicht gegeben oder zur Kenntnis gebracht.
8. Januar 2014, Mittwoch. Am Tag der Beerdigung unseres Vaters war allgemeine Besammlung im Haus der Eltern. Ich erhielt keine Einladung dorthin. Meine Geschwister wollten also nicht, dass wir in corpore auftraten. Trotzdem ging ich zwei Stunden vorher für einen Moment dort vorbei und begrüsste Heinz im Esszimmer und Muriel in der Küche. Vom Obergeschoss drang eindeutiger Streit an meine Ohren. Bereits Verteilungszwistigkeiten zwischen Joëlle und ihrer Mutter, meiner Schwester? Die Urnenbeisetzung auf dem Friedhof in Unterentfelden wurde im engsten Familienkreis abgehalten. Peter begrüsste mich - nach dem gehässigen Schandbrief vor drei Monaten mit den unerwartet freundlichen Worten "Hoi Fridel, schön dass d'cho bisch". Weil Papi seit Jahrzehnten keine Kirchensteuer bezahlte, musste die reformierte Kirche in Unterentfelden gemietet, ein privater Grabredner gesucht und in der Person von Herrn Lukas Simon von Kaiseraugst gefunden werden. Seine Rede am Grab war einfühlsam. Seine Abdankungsrede in der Kirche Unterentfelden fand ich teilweise bedenklich. Diese haben Lisbeth und Peter zu Papier gebracht. Peter muss die Kirche sofort verlassen haben. Er hatte sein Auto zum Arealausgang umparkiert und stand wartend daneben. Seine Lebensgefährtin Elisabeth Müller-Odersky war nicht anwesend. Was war wohl der Grund? Noch immer persona non grata? Das Abschiedsessen fand im Restaurant Mühle in Oberentfelden statt. Die beiden grossen Räume im ersten Stock waren überfüllt, das Servicepersonal schleppte Stühle herbei. Ich sass auf einem dieser Stühle am Kopfende eines längeren Tisches, rechts von mir Aurora, daneben ihre Mutter Muriel, links von mir Kevin und neben ihm seine Schwester Kim. Von der Firma Möbel Pfister kam keine Delegation zur Beerdigung, auch kein Nachruf in der Aargauer Zeitung. Was soll man auch über einen Verwaltungsrat abdrucken, dem man vor 34 Jahren den Abschied nahelegte?
Am 24. Januar 2014 erhielt ich von Peter die Dankeskarte betreffend Papis Todesfall.
"Es ist schön zu wissen, dass
Hans Jakob Pfister-Boltshauser
In vielen Herzen weiterleben wird.
Die grosse Anteilnahme und die vielen Zeichen der Verbundenheit begleiten uns.
Im Januar 2014 Die Trauerfamilie"
Links daneben steht handschriftlich von Peter:
"Lieber Fritz Wir sind nun daran das Elternhaus zu räumen. Solltest Du den Wunsch haben, Dich darin umzusehen und Erinnerungsstücke mitzunehmen, so melde Dich bitte bei Elisabeth. Gruss Peter"
Das Wort "Trauerfamilie" in Papis Todesanzeige und Dankeskarte ist keine Wiedergutmachung für meine unterlassene Namensnennung in der Todesanzeige von Mami. Meine Geschwister hätten es in der Hand gehabt, mich und meine Frau aufzuführen.
KAPITEL 31
Am Sonntag, 9. Februar 2014 ging ich aufs Grab der Eltern und machte Fotos. Mein Kranz liegt in gutem Zustand abseits in einem üblichen Auffangkorb. Dies war wohl die Tat meines Bruders. Anschliessend wurde ich von meiner Schwester nach Unterentfelden bestellt und durfte das Elternhaus betreten, um Erinnerungsstücke auszusuchen. Es waren Elisabeth Müller-Odersky, Frau Kleiner und ihr Lebenspartner, ein robuster Gefängniswärter aus der Strafanstalt Lenzburg, Herr Keller, zugegen. Letztere sah ich erstmals. Sie hatten ihre Sachen bereits angeschrieben. Mein silberner, mit Vornamen versehener Serviettenring war nicht mehr vorhanden, wurde demnach bereits zu einem früheren Zeitpunkt entsorgt. Lisbeth überging meine Frage, weshalb Peter, der mehrheitlich am Höhenweg in Unterentfelden bei seiner Freundin wohnte, nicht statt ihrer anwesend sei und beklagte sich lieber, was für ein Chrampf das alles war. Ich durfte nicht mithelfen, obwohl ich ihr am Telefon meine Hilfe angeboten hatte. Weshalb wohl nicht? Ich hätte etwas sehen können, das nicht für meine Augen bestimmt war. Die Heimlichtuerei ging von meinen Eltern nahtlos auf meine Geschwister über. Lisbeth sagte mir, ich sei der letzte Besucher und könne sogleich mitnehmen, was mir gefalle, sofern kein postit-Zettel mit Namen daran klebe. Ich sah einige Sachen, die mir gut gefallen hätten, doch waren sie bereits vergeben. Alle anderen hatten Vorrang, und ich las auf den postit Namen von Leuten ausserhalb unserer Familie, die ich nicht kannte. Alle wirklichen Kostbarkeiten, wie etwa Mamis umfangreicher und wohldotierter Schmuck*, goldene Schmuckuhren, goldene Krawattennadeln und Manschettenknöpfe wie auch alte Raritäten von Wanduhren, Bilder, mehr als ein Dutzend rare Porzellandosen, Maissen-Statuetten, Musikautomaten, wertvolle Sasha Morgenthaler-Puppen und weitere Preziosen, waren bereits weggeschafft worden, so auch der gefällige Sekretär von Mami. Die an die Wand geschraubte Vitrine im Esszimmer war noch am Ort, aber bereits leergeräumt. Ich habe mir hiervon ein Foto gemacht. Der zweitürige Schrank sprang mir sofort in die Augen, er war vor vielleicht zwanzig Jahren aus unserem ehemaligen Kirschbaum gefertigt worden, auf dem ich mehr Zeit kletternd oder Früchte pflückend verbrachte als meine Geschwister zusammen und der mir auch als Rückzugsobjekt gedient hatte, wenn ich einmal mehr von den Eltern ungerecht behandelt worden war. Ich gestand meine Erfreunis gegenüber Lisbeth, doch diese konterte sofort, der Schrank sei ein persönliches Geschenk von Mami an Peter. Ich erwähnte, dass es so etwas für mich nicht gegeben hätte, und Lisbeth wandte ein, sie habe auch kein persönliches Geschenk von Mami erhalten. Eine bare Lüge meiner Schwester, denn einige Minuten später gestand sie mir, es sei im letzten Jahr, noch zu Lebzeiten der Eltern, zur Verteilung von Wertgegenständen gekommen. Lisbeth erwähnte nicht, dass sie und Peter sich bei dieser Aktion für mich eingesetzt hätten – also haben sie es auch nicht getan. Erbstücke, die Papi von seinen Eltern erhalten hatte – davon gab es einige – waren auch nicht mehr vorhanden. Lisbeth und Peter bedienten sich nach Papis Tod aus Habgier reichlich an "persönlichen Geschenken". Ich verweise auf die für Peter reservierten, meterlangen, vollgefüllten Wandschränke im Untergeschoss. In Papis Büro waren der übergrosse, geheimnisumwitterte Aktenschrank und die vielen Regale mit stets abgeschlossenen Schiebetüren ausgeräumt worden. Ich war knapp anderthalb Stunden im Haus und ging mit leeren Händen von dannen. Später schrieb ich Peter in der Angelegenheit Kirschbaumschrank. Keine Stellungnahme meines Bruders.
* Mami trug oft an einer goldenen Halskette ein ebensolches flaches, ziseliertes, ovales Medaillon, eine Art Amulett, das man aufklappen konnte. Darin waren auf der linken und rechten Seite je ein Foto von Lisbeth und Peter. Mami besass auch einen zweiten, ähnlichen Anhänger mit einem mittleren und zwei ausklappbaren guillochierten Teilen, in dem drei Fotos Platz gehabt hätten. Aber an und in Mamis Herzen existierte ich nicht, das dritte Teil blieb stets leer. Als kleiner Junge hat mir Mami beide öfters gezeigt, vermutlich weil sie mir weh tun wollte, indem sie mir das Dreier zeigte, in dem ein Foto von mir fehlte. Später trug sie aus irgendwelchen Gründen nur noch ersteres, was mich etwas weniger schmerzte weil ich darin nicht fehlte.
Am 12. März 2014 telefonierte ich Lisbeth aufs Handy und fragte sie, ob die Testamentseröffnung noch immer nicht stattgefunden habe, und sie verneinte ausdrücklich. Ich gab meinem Erstaunen Ausdruck, dass sich dies so lange hinziehe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagte sie dann aber, dass die Testamentseröffnung zwischenzeitlich stattgefunden habe. Ich fragte, ob ich berücksichtigt worden sei, und sie verneinte dies. Sie verwies mich kurzerhand an den Testamentsvollstrecker. Ich sagte ihr, dass sie mich im Falle einer Nichtberücksichtigung unterstützen müssten, schliesslich hätten sie Millionen erhalten, die eigentlich mir zugeständen hätten. Sie fragte, ob dies eine Drohung sei, ich entgegnete, es handle sich um eine Bitte. Ich hätte mit 60 Jahren keine Chance, zu neuen Aufträgen zu kommen. Obwohl ich in der Branche einen guten Namen hätte, seien die Entscheidungsträger ca. 40jährig, und denen sei ich schlicht zu alt, die suchten ihresgleichen, wenn es um Beratung ging. Abschliessend erkundigte ich mich, ob sie auch zum 80. Geburtstag meines Göttis käme. Sie bejahte. Also würden wir uns am Sonntag sehen, antwortete ich und verabschiedete mich.
Bevor ich meinen Geburtstagsbrief an Lisbeth schrieb, wollte ich Gewissheit haben, ob ich im Testament meines Vaters wirklich nicht berücksichtigt war. Also telefonierte ich dem Rechtsanwalt und Testamentsvollstrecker Dr. Dieter Schärrer von der UBS Aarau. Er teilte mir mit, das vorliegende Testament sei im März 2009 abgefasst worden und ich wurde darin nicht erwähnt. Mehr dürfe er mir nicht sagen.
Weil mein Götti und Tante Trudi an der Feier zu meinem 60. Geburtstag nicht teilnehmen wollten (zuviel des Trubels), habe ich sie einige Wochen später zu einem Mittagessen eingeladen. Meine Frau und ich holten die beiden ab, und wir fuhren zum Restaurant Thurberg. Tante Trudi sagte später bei Kaffee und Himbeerroulade bei ihnen zu Hause, Lisbeth habe ihr am Geburtstagsfest des Göttis am 16. März gesagt, dass Unterentfelden verkauft werde. Auch dies wusste ich nicht. Das Haus wich später zwei Mehrfamilienhäusern mit 13 Eigentumswohnungen.
Am 16. Februar 2015 sandte ich Peter folgendes Fax:
"Lieber Peter Am Mittwoch, 25. Februar, werde ich in der Nähe von Wohlen sein und möchte dich gerne um 19 Uhr in deiner Praxis treffen. Es wäre eine gute Gelegenheit, von Mann zu Mann, von Bruder zu Bruder, über unser Verhältnis zu sprechen. Du kannst mir zum Beispiel erklären, warum du gegenüber Edith geäussert hast, du hättest nichts gegen sie, aber gegen mich. (…) Die meisten Unstimmigkeiten beruhen auf Missverständnissen. Weiteres Stillschweigen deinerseits ist unserer unwürdig und löst keine Probleme. Ohne dein Veto werde ich mit grosser Freude dich besuchen.
Herzlich, dein Bruder Fritz"
Mein Fax scheint Peterseits zu einiger Unruhe und Nervosität geführt zu haben. Als erstes erhielt ich um 14.02 Uhr ein Telefonat von 056 621 28 22, Peters Praxis (meine Frau war abends Zeugin des Anrufs auf dem Display), beim vierten Läuten hatte ich den Apparat erreicht und hob ab, doch Peter hatte bereits aufgelegt. Um 14.15 Uhr kam mein Fax zurück mit ergänzendem Text, und am 18. Februar 2015 um 9.14 Uhr nochmals dasselbe Fax:
"Lieber Fritz Obiges Schreiben läuft ins Leere. Ich habe Dir erklärt, warum ich keinen Kontakt zu Dir suche. Und dabei bleibt es. Peter"
(Hiezu meine Anmerkung: Ich verweise auf seinen Brief vom 22.10.2013, der noch abgedruckt wird.)
Im Juni 2015 telefonierte ich morgens von meinem Natel auf dasjenige von Peter. Als er bereits nach dem zweiten Signal abnahm, sagte ich: "Hoi Peter, do isch de Fritz." Er fragte: "Wär isch am Telefon?" Ich wiederholte: "Fritz, din Brüeder." Ich sage ihm, dass Lisbeth mich an ihn verwiesen habe, weil ich meiner Frau gerne das Elternhaus zeigen wolle. Er sagte, das Haus werde abgerissen. Ich war erstaunt und bemerkte, das hätte ich nicht gewusst. Für mich ein Grund mehr, das Haus heute Bigi zu zeigen. Er betonte zweimal, das Haus sei nicht mehr repräsentativ und war von meiner Idee nicht begeistert und versuchte mir mein Vorhaben auszureden. Ich liess nicht locker. Wann ich denn dort sein würde, fragte er mich, und ich antwortete, dass wir bei Freunden in Worb seien und auf der Heimfahrt vermutlich zwischen fünf und sechs Uhr eintreffen würden. Ich würde ihm eine Viertelstunde vor Unterentfelden wieder aufs Natel telefonieren. Um 11.38 Uhr erhielt ich eine sms von Peter. Ohne Anrede und Gruss: "Die Haustüre ist offen und wird heute Abend wieder abgeschlossen." Zum letzten Mal - ohne den geringsten Anflug von Wehmut - betrat ich (und erstmals meine Frau) das leergeräumte Vaterhaus. Die Garage war abgeschlossen, wo Peter zwei seiner vier Autos parkiert hatte.
KAPITEL 32
Am 29. Juli 2015 sandte ich Lisbeth ein Fax und erkundigte mich, wie sie und Peter meine finanzielle Zukunft sehen würden. Nach sieben Wochen erhielt ich Antwort.
Gemeinsamer Brief per Einschreiben von Lisbeth Jaggi und Peter Pfister
"Elisabeth Jaggi-Pfister, Case postale 53, 1803 Chardonne
Peter Pfister, Freiämterstrasse 5, 5610 Wohlen
Lieber Fritz,
Offenbar bist du der Ansicht, dass dir eine finanzielle Forderung gegen uns zukommt, deshalb schreiben wir dir gemeinsam.
Wir können nicht erkennen, woraus sich ein solcher Geldanspruch gegen uns ergeben soll, und wir sind klar der Meinung, kein Geld zu schulden.
Da du aber anderer Auffassung bist, haben wir uns entschieden, diese Sache unserem Rechtsanwalt, Herrn Dr. iur. Nathan Landshut, BLM Rechtsanwälte, Zürcherstrasse 48, 8953 Dietikon, zu übergeben. Er ist beauftragt, deinen behaupteten Anspruch zu prüfen und unsere Interessen in diesem Zusammenhang wahrzunehmen (siehe Beilage).
Wir bitten dich daher, dich zukünftig in dieser Angelegenheit ausschliesslich an unseren Rechtsanwalt zu wenden. Selbstverständlich steht es dir auch frei, deinen behaupteten Anspruch gerichtlich klären zu lassen.
Liebe Grüsse,
Elisabeth Peter
handschriftlich: Elisabeth handschriftlich: Peter
Beilage"
Hiezu meine Anmerkung: Der Schlusssatz meines ganzseitigen Schreibens an Lisbeth lautete: "Es wird nun Zeit, dass wir das Pekuniäre angehen. Was schlagen Peter und du mir vor?" Also nichts von "finanzieller Forderung" ebenso wenig wie die zweimalige Erwähnung "deinen behaupteten Anspruch".
Auf der Vollmacht des Rechtsanwaltes Landshut stand:
Frau Elisabeth Jaggi Pfister, wohnhaft C.P. 53, 1803 Chardonne Herr Peter Pfister, wohnhaft Freiämterstrasse 5, 5610 Wohlen.
Hiezu meine Anmerkung: Ich nehme nicht an, dass meine Schwester in einem Postfach wohnt. Bei meinem Bruder handelt es sich um die Praxisadresse, er wollte mir also noch immer nicht seine neue, gemeldete Wohnadresse mitteilen.
Als ich Lisbeth am 11. Oktober 2015 ein Fax sandte, hörte ich ihre Stimme, wie auch schon früher. Doch schaltete sie diesmal nicht auf Faxempfang um. Ich habe ihr dann das Fax per Post gesandt.
“Per Fax an Lisbeth Jaggi 021 921 91 49 11. Oktober 2015
Liebe Lisbeth
Danke für euren Brief vom 16.9.
Meine Frau und ihre ältere Tochter weilen für mehrere Tage in London, um die dortselbst studierende jüngere Tochter zu besuchen. Dies gibt mir Gelegenheit, mich unserer harrenden Pendenz zu widmen.
Klärende Fragen: Wollt ihr mir, unter welchem Titel auch immer, weder heute noch zukünftig, kein Geld aus eurer Millionenerbschaft zukommen lassen? Wenn nein, weshalb nicht?
Noch immer hat mir niemand erklärt, weshalb ich in Papis Testament nicht aufgeführt wurde. Vermutlich liegt der Grund darin, dass es leider keinen gibt, ansonsten man ihn mir genüsslich unterbreitet hätte. Was habe ich meinen Eltern angetan, welches zu meiner Nichtberücksichtigung auf Mamis Todesanzeige führte?
Liebe Grüsse, Fritz"
Im Gegenbrief schrieb mir am 2.11.2015 RA Dr. iur. Nathan Landshut:
"Dietikon, 2. November 2015
Finanzielle Forderung
Sehr geehrter Herr Pfister
Frau Elisabeth Jaggi-Pfister und Herr Peter Pfister haben mich in randvermerkter Angelegenheit mit der Wahrung Ihrer [sic] Interessen beauftragt (Beilage).
Sie machen gegen meine Mandantschaft eine finanzielle Forderung geltend. Zur rechtlichen Beurteilung Ihres geltend gemachten Anspruchs, bitte ich Sie höflich darzulegen, woraus sich die geltend gemachte Forderung ergibt. Sollten sich Schriftlichkeiten in Ihrem Besitz befinden, welche die Forderung begründen, bitte ich Sie, diese dem Schreiben beizulegen.
Schliesslich ersuche ich Sie höflich, sich in dieser finanziellen Angelegenheit ausschliesslich an meine Person als Rechtsvertreter von Frau Elisabeth Jaggi-Pfister und Herrn Peter Pfister zu wenden.
Mit freundlichen Grüssen
Nathan Landshut”
Daraufhin habe ich einen ortsansässigen Rechtsanwalt ausfindig gemacht, und dieser schrieb dem Anwalt von Lisbeth und Peter.
Brief von RA Mario Weber an RA Dr. Nathan Landshut vom 17.2.2016:
"Dr. Nathan Landshut Rechtsanwalt Zürcherstr. 48/50 8953 Dietikon 1
17. Februar 2016
Pfister
Sehr geehrter Herr Kollege
Ich zeige Ihnen an, dass mich Fritz Pfister, Frauenfeld, im Zusammenhang mit dem Nachlass seiner Eltern mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt hat.
Nach Einsicht in die mir vorliegenden Unterlagen gehe ich davon aus, dass mein Mandant keine erbrechtlichen Ansprüche gegenüber seinen Geschwistern hat. Weder ist er gesetzlicher Erbe, noch hat er allfällige erbrechtliche Ansprüche gestützt auf letztwillige Verfügungen der Erblasser geltend gemacht.
Mein Mandant fühlt sich nicht nur als Sohn der Eltern, sondern auch als Bruder Ihrer Mandanten. Sie wuchsen zusammen auf und lebten in derselben Familie. Bis 2009 wurde ihm seitens seines Vaters versichert, dass alle drei Kinder zu gleichen Teilen erben würden. Offenbar wurde dieses Testament geändert; Einsicht in das neue Testament hatte mein Mandant bis dato nicht.
Aufgrund dieses mündlichen Versprechens seines Vaters hat sich mein Mandant seinen Lebensabend anders vorgestellt als er sich nun präsentiert. Er stellt keine finanziellen Ansprüche an die Geschwister, sondern sucht vielmehr das Gespräch, ob eine faire, innerfamiliäre Regelung der finanziellen Verhältnisse möglich wäre.
Gerne ersuche ich Sie um Stellungnahme Ihrer Mandantschaft, ob ein solches Gespräch stattfinden könne. Für Ihre Bemühungen danke ich Ihnen bestens.
Freundliche, kollegiale Grüsse
Mario Weber
Dreifach"
Brief von RA Dr. Nathan Landshut vom 22.3.2016:
"Herrn Mario Weber, Rechtsanwalt, Thundorferstr. 13, 8501 Frauenfeld
Dietikon, 22. März 2016
Pfister
Sehr geehrter Herr Kollege
Nach Rücksprache mit meinen Klienten kann ich Ihnen mitteilen, dass an dem von Ihnen erwähnten Gespräch aus Sicht meiner Mandanten kein Interesse besteht.
Ich bitte um Kenntnisnahme.
Mit freundlichen, kollegialen Grüssen
Nathan Landshut
Kopie an Klientschaft"
Weil Lisbeth und Peter befürchteten, ich könnte persönlich bei ihnen vorsprechen und um finanzielle Unterstützung nachsuchen, hat mir ihr Anwalt am 7. Februar 2017 schriftlich mitgeteilt, dass meine Geschwister mir Hausverbot erteilt hätten. Bei Nichtbeachtung eines der Hausverbote sei er beauftragt, umgehend Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu stellen.
Noch im April 2018 erzürnte Lisbeth unsere Tante Susy, Papis Adoptivschwester, am Telefon, mit der Argumentation, ich hätte kein Anrecht auf ein Erbe, ich sei ja nicht einmal adoptiert. Tante Susy war geschockt und widersprach sehr vehement. Jedes Kind habe ein Anrecht, ob es sich nun um ein leibliches, adoptiertes oder um ein Pflegekind handle. Ich hätte schliesslich adoptiert werden sollen, die Bequemlichkeit der Eltern solle mir nicht zum Nachteil gereicht werden, schliesslich sei ich seit 60 Jahren der Bruder von ihr und Peter. Hiezu meine Anmerkung: Für mich war Papi, seit ich denken kann, stets mein Vater und Mami meine Mutter.
Am Freitag, 16. November 2018 besuchte Herr Klaus Isele, der Lektor, meine Frau und mich. Danach erhielt ich von ihm folgendes mail: "Auf der Rückfahrt kam mir der Gedanke, ob ich als Aussenstehender mal einen vermittelnden Brief an Ihre Schwester schreiben sollte." Ich war damit einverstanden ohne den Inhalt seines Briefes zu kennen. Er schlug vor, dass Lisbeth und Peter von ihrem Erbe von jeweils geschätzten 30 Millionen mir je 500'000 Franken, also ca. 1,7% abgeben. Die Antwort kam nicht von Lisbeth, sondern wiederum vom Anwalt, Dr. Nathan Landshut, welcher Herrn Isele wissen liess, "dass ein solcher Geldanspruch nicht gegeben ist". Zur Geldgier gesellt sich nun auch noch der Geiz.
Zum Abschluss meiner tristen Lebensgeschichte will ich Ihnen den gehässigen Schandbrief meines Bruders, den er seiner Sekretärin "bs" diktierte, nicht vorenthalten, wohlwissend und aus nächster Nähe mitbekommend, wie es mir in dieser Familie von Anbeginn ergangen ist.
Peters E-mail vom 22. Oktober 2013
"5610 Wohlen, 22. Oktober 2013 / bs
Lieber Fritz
Ich habe Deine diversen Schreiben zur Kenntnis genommen.
In meinem letzten Brief an Dich habe ich das, was ich Dir darauf zu antworten bereit war, dargelegt.
Ergänzend kurz das Folgende:
Das Verhältnis zu unserer Familie ist, so wie es ist, vollumfänglich von Dir verursacht worden und von niemand Anderem.
Dass dieser Zustand permanent geworden ist, liegt ebenfalls an Dir und an keinem sonst.
Dein chronisch geklagtes und grell dargestelltes Selbstmitleid ist unberechtigt und stösst mich zutiefst ab.
Die Anschuldigungen unserer Familie und insbesondere den Eltern gegenüber waren, sind und bleiben in höchstem Masse ungerecht, zynisch und verhöhnend.
Du verbreitest unwahre Aussagen und solche, welche verdreht dargestellt werden. Auch deren ständige Wiederholungen machen sie nicht wahrer.
Deine menschliche Umwelt wird von Dir pausenlos dergestalt manipuliert, dass Du als bedauernswertes Opfer erscheinst, was Du in Wahrheit nie warst. Diejenigen die darauf hereinfallen sind die wahren Opfer, nicht Du. Bei mir wird Dir das nie mehr gelingen.
Es wäre Eurer jungen Beziehung, insbesondere Deiner Frau, zu gönnen, dass ein Neubeginn gelingen möge. Dass Ihr das durch eine nähere Beziehung zu uns besser zu Stande bringen würdet, ist ein grosser Irrtum. Unter den Umständen wie sie nun mal sind, kann das nicht gut gehen. Und es ist besser, wenn dies Deiner Frau erspart bleibt.
Du ignorierst die Zeichen an der Wand, die besagen, dass ich bis auf Weiteres keinen Kontakt mit Dir will.
Ich hoffe, dass diese Zeilen Dir helfen, dies zu akzeptieren.
Trotzdem, machts gut.
Peter"
Hiezu meine Anmerkungen: Bei seinem Rundumschlag fehlt es mir an Beispielen. Ich bin sicher, hätte er welche gehabt, er hätte diese aufgelistet. Wenn seine Behauptungen zutreffend wären, hätte Papi sein Testament viel früher geändert, so musste ein günstiger Zeitpunkt abgewartet werden, der mit 89 Jahren endlich eintraf.
KAPITEL 33
Einige Erklärungen zu wenigen Personen.
Pfister-Weideli Fritz Gottlieb, 1891-1984 (der Vater meines Pflegevaters)
Vermutlich von 1912 bis 1916 schuftete er als gut bezahlter Kohlearbeiter im Hafen von Barcelona, um die Schulden seines Vaters abzutragen. In seiner Freizeit kickte er beim selbigen Fussballclub als Stürmer. 1913 heiratete er seine spanische Freundin und hatte drei Söhne mit ihr: Fritz, geb. 1915, Ernst, geb. 1916 und Hans, geb. 1920, mein späterer Pflegevater. Wann und weshalb die Ehe geschieden wurde, teilte man mir nie mit. Opapa war finanziell in der Lage, grosszügig zu sein. Seine Frau bekam bei der Eheauflösung ein Haus, hatte eine Hauswirtschafterin und stets genug Geld. Ich durfte sie als bettlägerige Person mit langen weissen Haaren zweimal mit meinen Eltern in ihrem Heim besuchen. So wie sie dalag - mit einem dankbaren Gesichtsausdruck, Zufriedenheit und Erfülltheit ausstrahlend -, war sie für mich der Inbegriff eines Engels. Während meiner Primarschulzeit besuchte ich oft eine ältere Nachbarin drei Häuser weiter, die Tetraplegikerin war und auch so etwas engelhaftes hatte; zu ihr fühlte ich mich ebenfalls hingezogen. Ich durfte ihr den Arm und die Hand streicheln, was Mami mir nie gestattete.
1916 kehrte Opapa nach Basel zurück und übernahm von seiner Mutter - der Vater war 1912 verstorben - mit 25 Jahren die Leitung der Firma Möbel Pfister. Mit Fahrrad und Handwagen war er anfänglich unterwegs. Nach zwei Jahren wurde der erste Pfister-Camion angeschafft, heute sind es rund 150 Fahrzeuge. Der Aktionsradius der Lieferungen weitete sich über das Stadtgebiet in die Region aus. 1922 wandelte er die Einzelfirma in eine Aktiengesellschaft um. Opapa schuf vorbildhafte firmeneigene Fürsorgewerke (das erste 1934, 14 Jahre vor der AHV-Einführung) und Stipendiate. Bei allem sozialen Denken war er aber ein unbedingter Anhänger der privaten Marktwirtschaft. “Sie gibt” - so sagte er in einem Interview - “der Initiative besonders begabter Menschen auf allen Gebieten den zur Entfaltung neuer Ideen und für den Fortschritt unentbehrlichen Spielraum. Ihr verdanken wir den heutigen Wohlstand und ihr ist Sorge zu tragen.”
Das Geschäft muss sehr rentiert haben, denn bereits zwölf Jahre nach Übernahme der kleinen Einzelfirma kaufte Opapa 1928 in Erlenbach rund 20’000 Quadratmeter Land und liess darauf seine Casa Felice erbauen. Ab 1929 wohnte er mit seiner zweiten Frau und seinen drei Söhnen und späteren drei Adoptivkinder in seinem sehr grossen Haus. Opapa war ein generöser Mensch und hat seinen beiden Schwestern und dem in den USA lebenden arbeitslosen Bruder mit regelmässigen Geldbeträgen ein Leben im Wohlstand ermöglicht. Wie mir Papi einmal sagte glaube man immer, bekannte Volksschauspieler wie z.B. ein Ruedi Walter verfügten über ein gewisses Vermögen. Dem soll nicht so gewesen sein. Opapa habe die Kosten einer Operation für ihn übernommen. Als Basler dürften sich die beiden gekannt haben; jedenfalls wurde der beliebte Volksschauspieler für mehrere Werbespots von Möbel Pfister engagiert. Mehrfach ermöglichte Opapa fähigen Mitarbeitern den Gang in die Selbständigkeit, indem er ihnen Darlehen gewährte. Darunter gab es auch solche, die in der Branche blieben und zu seinen Konkurrenten wurden. Er sagte stets, ganz sportlich: Der Beste soll siegen.
Ich war einer seiner liebsten Enkel und vergesse nie, wie wir auf einem Davoser Schlitten in Ftan die Strasse hinunterfuhren, von Skifahrern abgedrängt wurden und im Wald landeten - und Opapa im Spital, wo ich ihn mit Mami besuchen durfte. Wir beide haben uns riesig gefreut, und ich durfte sogar auf sein Krankenbett steigen und ihm die mitgebrachten Bananen überreichen. Wir haben während Jahren über dieses verbindende Erlebnis gelacht und er ein bisschen baseldytsch über die unachtsamen Skifahrer gewettert.
1963 übergab Opapa 72jährig das Verwaltungsratspräsidium seinem engsten Mitarbeiter, dem 47jährigen Edy Burkhardt (1916-1997). Schon früh bemerkte er die mangelnde Fähigkeit seiner beiden im Geschäft behaltenen Söhne aus erster Ehe, Ernst und Hans, und wollte ihnen sein Lebenswerk nicht anvertrauen. Also verkaufte er 1966 seine Aktien der Möbel Pfister Personalfürsorgestiftung. Gemäss Stiftungsurkunde besteht das Hauptziel im Wohl der Pfister-Mitarbeitenden. Die Aktien dürfen nicht verkauft werden, die Firma gehörte von nun an zu 100% dem Personal und nicht mehr dem Gründer. Weder Fritz, Ernst noch Papi besassen zu keinem Zeitpunkt eine Aktie der Möbel Pfister AG. Im selben Jahr, zu seinem 75. Geburtstag spendete er aus seinem Privatvermögen fünf Millionen Franken für sportliche und wohltätige Institutionen. Ich kann mich eindrücklich erinnern, wie er an jenem Geburtstagsfest plötzlich in schwarzer Badehose und sehr sportlichem Body erschien, zum Erstaunen aller Anwesenden auf dem Sprungbrett einen Handstand drückte, dem ein Köpfler in das wohltemperierte Wasser folgte. Der Applaus war ihm sicher. Den Grasshoppers Fussball Club unterstützte er während Jahrzehnten mit grösseren Geldbeträgen. Die Kicker sollen gemäss Aussage von Papi im Kleinmagglingen, wie er das Anwesen seiner Eltern auch nannte, trainiert haben. Im Keller waren grosse Umkleidekabinen mit Duschen und Massageliegen. Das Hallenbad mass geschätzte 18 x 8 Meter.
1971 trat Opapa - mit 80 Jahren - auf eigenen Wunsch aus dem Verwaltungsrat aus. Das Unternehmen war zu einem nationalen Einrichter angewachsen. Er behielt es sich allerdings immer noch vor, die Geschäftsleitung nach Erlenbach zu zitieren, um den Herren die Leviten zu lesen. Es war 1984, als Opapa mitten im Gespräch mit seinem Hausarzt und Freund Dr. Paul Gysi einem Hirnschlag erlag. Auf seinem Anwesen wurden nach dem Tode seiner zweiten Frau nicht weniger als 38 kleinere Einfamilienhäuser gebaut. Opapa hätte es eigentlich verdient, dass sein grossartige Leistung und Errungenschaft für die Nachwelt in mehr als einigen wenigen Sätzen gewürdigt worden wären. Vermutlich weil er während Jahrzehnten der beste Steuerzahler war und viele Spenden für und in der Gemeinde tätigte, wurde in Erlenbach ein Weg, der durch sein ehemaliges Grundstück führt, nach ihm benannt.
Pfister-Boltshauser Hans, 1920-2013 (mein Pflegevater)
Papi hatte eine Schulausbildung von wenig solider Mittelmässigkeit. Die Handelsschule war Endstation. Wie sein Vater absolvierte er keinen Militärdienst. Bevor er sich stellen sollte, übersiedelte er in die USA.
Papi war ein Mensch mit mässigem Einfluss und wenig Überzeugungskraft, weil er nie gelernt hatte, zu reden, zu argumentieren. Er verfasste einige Briefe, mit denen er in der politischen Gemeinde Unterentfelden herumpolterte, was den Vater meines Jugendfreundes, den sozialdemokratischen Gemeinderat Bertschi, an einer Sitzung zum Ausspruch verleitete: "Dä söll Tschnöre halte und viel Stüre zahle", wie mir Papi aus dem Munde eines Informanten persönlich zu berichten wusste.
Weshalb war Papi bei seinen Kindern so unbeliebt? Er war zu Tisch selten gesprächig und liess sich nicht auf Diskussionen ein. Seine Predigten - die niemand hören wollte - waren gefürchtet, verhasst und vertrugen keinen Widerspruch. Es gab schliesslich nur eine Meinung, nämlich seine. Papi zu widersprechen, hätte sich niemand erlaubt. Er thronte, dozierte, trug vor, aber er diskutierte nicht. Peter muss diese Unfähigkeit von ihm mitbekommen haben. In der konstruktiven Funktion der Gegenargumente sah Papi nur den Ausdruck nörgelnden Querulantentums und hielt dies unserer Naivität zugute. Oft mussten wir uns anhören, dass wir erst mal älter werden sollten, dann würden wir seine Meinung schon noch teilen lernen und mit ihm konform gehen. Er war besessen von fixen Ideen, schimpfte über die Russen und prophezeite bis 1989 hundertfach, dass diese eines Tages einmarschieren und uns alles wegnehmen würden. In einem diesbezüglichen Brief schrieb er mir von "schweren Zeiten, die mit 100% Sicherheit kommen werden".
Er ass viel und hatte die Angewohnheit, das Esszimmer nach dem letzten Bissen sogleich zu verlassen. Nach jedem Mittagessen folgte ein Nickerchen auf dem Sofa bevor es zurück ins Geschäft ging und nach dem Nachtessen nahm er in seinem Lieblingssessel Platz um Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, zu schlafen, zu schnarchen, fernzusehen. Um zu verhindern, dass Papi den am Tisch Verbliebenen nicht aus irgend einer Zeitung etwas vorlas, was er für wichtig und mitteilungswürdig hielt, schloss Peter sofort nach Papis Abgang die grosse Schiebetüre, die das Esszimmer vom Wohnbereich abtrennte. Das Wohnzimmer wurde von uns Kindern gemieden, wenn sich Papi dorthin begeben hatte.
Papi verlor sich, wenn Besuch im Wohnzimmer war, gerne in endlosen und wiederholenden Monologen. Seinen Lehnsessel brachte er auf Knopfdruck in eine beinahe waagrechte Position, so dass er seine Umgebung nicht mehr sehen konnte, die Decke anstarrte oder mit geschlossenen Augen tat er seine Meinung kund, die Themen der anwesenden Gesellschaft bekannt waren, weshalb sie seinem Gerede mit gespielter Aufmerksamkeit gelangweilt und gequält folgten.
Papi schrieb uns Memos, schriftlich abgefasste Mahnungen, wann immer er etwas zu monieren hatte. Peter hatte die konsequenzlose Unverfrorenheit, diese wutentbrannt und ungelesen vor Papis Augen zu zerreissen und in den Papierkorb zu werfen. Papi ballte die Fäuste und biss auf die Zähne bis er sich nach wenigen Sekunden wutentbrannt und vor einem Herzstillstand bewahrend abwandte. Papi rühmte meinen Bruder wenig und mich nie, kein Kompliment, keine Anerkennung, obwohl es hierfür sicher Gelegenheiten gegeben hätte. Ein verständnisvoller Motivator ist an ihm sicher nicht verlorengegangen. Man wächst ja nicht am Lob, sondern an Korrekturen, war seine Meinung. Vielleicht wurde er von seinem Vater auch nie gelobt, denn er war – im Gegensatz zu seinen Brüdern - kein Fussballspieler. In einem Brief auf der Rückseite von internen gelben Schmierpapierseiten von Möbel Pfister hat Papi mir geschrieben: "So aber konnte ich meinem Vater unter ständiger Kritik beweisen, was in mir steckt."
"Lehre tut viel, aber Aufmunterung tut alles." Dieser Aphorismus geht auf den 19jährigen Goethe zurück.
Kurz nach dem Berliner Mauerfall 1989 und dem absehbaren Zerfall der Sowjetunion stoppte Papi seine antirussischen Tiraden – der Anlass für seine Prophezeiungen war weggefallen. Er schaute positiver in die Zukunft. Nun wurde er auch erträglicher, und wir Kinder liessen uns wieder öfter in Unterentfelden blicken.
Papi achtete kritisch auf sein Äusseres. Vierzehntäglich ging er zum Coiffeur, auch Manicure und Pédicure liess er sich besorgen. Für einen Mann hatte er ausnehmend schöne und gepflegte Hände. Seine Fingernägel hatten einen matten Glanz und waren nie kurz, nie lang, sie waren immer gleich, und ich fragte mich stets, wie er dies bewerkstelligte. Seine mit Einlagen versehenen Schuhe liess er lose binden, glitt mit dem Schuhlöffel hinein und streifte sie ab, ohne sich zu bücken. Er trug immer Anzüge, Hemden und Schuhe auf Mass, auch die Freizeitversionen. Ich habe ihn nie Jeans tragen sehen. Er hätte darin auch keine gute Figur abgegeben, darauf achtete Mami schon.
Wann immer Papi in einem Hotel ein Klavier erspähte, konnte er nicht widerstehen, sich hinzusetzen und den Tasten fetzige Melodien zu entlocken. Ich kann Ihnen versichern, er hat ganze Hotels unterhalten, die Gäste aus ihren Zimmern und die Mitarbeiter von ihren Arbeitsbereichen zusammenströmen lassen. Wir Kinder waren mächtig stolz auf unseren Vater. Zu Hause hatte Papi ein Klavier und mehrere Hammondorgeln.
Gegenüber gemeinnützigen Organisationen war Papi sehr grosszügig. Für das Hallen- und Freibad Entfelden sowie das Alterszentrum Entfelden spendete er grosse Summen. Er sagte mir einmal, ohne seine Donationen hätten weder das Eine noch das Andere gebaut werden können. Öffentliches Aufheben durfte darob nicht gemacht werden, dies war ihm zuwider. Seine Kirchensteuer musste während Jahrzehnten an das Alterszentrum weitergeleitet werden, ansonsten wäre er aus der Kirche ausgetreten. Einmal sagte mir Papi, er habe einem Hundeheim 100'000 Franken für drei Hundeboxen und dem Wildpark Roggenhausen einen langen Futternapf für 17'000 Franken gespendet. Solche Zuwendungen dürften weder erst- noch letztmalig gewesen sein.
Pfister-Boltshauser Margrit, 1919-2013, von Ottoberg TG, (meine Pflegemutter)
Mami beherrschte die Fähigkeit, nicht zu sehen, was sie nicht sehen wollte. Aber sehr wohl auch das Gegenteil.
In Sachen Geschenke war sie sehr eigen. Erhielt sie eines, das ihr nicht gefiel, so schenkte sie es in der Verwandtschaft weiter. In einem Fall bekam sie es ca. vier Jahre später von einer anderen Person zu Weihnachten wieder zurück. Hierüber haben wir noch während Jahren gelacht.
Bei Tisch war sie eine eher kleine Esserin. Aber ihre Naschereien zwischen den Mahlzeiten waren stets von ausgeprägter Süssigkeit.
Mami war eine stets gepflegte Erscheinung mit beachtlich vielen schönen, massgefertigten Kleidern. Sie wusste haargenau, welche Farben, Formen und Muster ihr standen, entsprechend geschmackvoll und sorgfältig wurde ihre Garderobe ausgewählt.
Jaggi-Pfister Lisbeth, Jg. 1949 (meine Schwester)
Getauft wurde sie auf den Namen Elisabeth, in der Familie wurde sie jedoch Lisbeth gerufen. Einzig Peter nannte sie nicht gerade beschönigend "Lisä", sie ärgerte sich grün und blau darüber und bat ihn öfters und immer erfolglos, dies zu unterlassen. Sie war mir eine Superschwester. Wir verstanden uns von klein auf bis ins fortgeschrittene Alter prächtig, wovon auch eine ausgiebige Korrespondenz und meine vielen Besuche bei ihr erzählen.
Am 29. Januar 2017 sagte mir meine Gemahlin: "Lisbeth ist eine Frau, mit der ich bei normalen familiären Verhältnissen sehr wohl klar käme."
Lisbeth hat zwei Kinder: Muriel, Jg. 1978, war ein niedliches, graziöses Kind und ist noch heute eine Frau mit mädchenhafter Anmut. Sie hatte erhebliche Schwierigkeiten und schaffte leider nur knapp die obligatorische Schulausbildung, musste die Arztgehilfin-Lehre für eine weniger anspruchsvolle Hilfslehre aufgeben. Joëlle, Jg. 1983, war ein begabtes und intellektuelles Mädchen. Sie studierte in Freiburg Ethnologie. Heute arbeitet sie als Bardame im Fri-Son in Freiburg.
Jaggi-Pfister Heinz, Jg. 1946 (Ehemann meiner Schwester)
Infolge seines schwächlichen Körperbaus und kränklicher Konstitution wurde er vom Militärdienst suspendiert und für dienstuntauglich erklärt. Sein Gang ist seit jeher vornübergeneigt.
Nat. oec. HSG im 2. Anlauf.
Mit ihm habe ich mich immer gut verstanden und konnte Papi, der ihn als Langweiler bezeichnete, nicht beipflichten. Sicherlich als introvertiert erlebte ich Heinz als ruhigen, umsichtigen Schaffer im Hintergrund, mit dem ich viele interessante Gespräche geführt und einiges von ihm gelernt habe. Ich war oft und gerne bei ihm und meiner Schwester am Genfersee. Eines kann man ihm allerdings nicht zugute halten: Er war stets ein grässlicher Morgenmuffel, täglich bis 10 Uhr schlecht gelaunt und nicht ansprechbar. Darunter litten Lisbeth und seine beiden Töchter sehr, die den armen Papi jeden Samstag und Sonntag schonen mussten – und während der Woche seine Arbeitskollegen. Ab Frühjahr 2000 reduzierte er sein Arbeitspensum bei Nestlé auf 80%. Leider hatte er stets unansehnlich fettige Haare. Sein hellbrauner lederner Lesefauteuil war auf Kopfhöhe stets schwarz und glänzte wie frisch gebohnert. Der Haushaltsgeldbuchhalter Heinz machte täglich Kassensturz von Lisbeths Portemonnaie. Fein säuberlich wurden alle Ausgaben akribisch nach Aufwandart notiert.
Pfister-Wedgwood Peter, Jg. 1951 (mein Bruder)
Peter hatte das Handicap, dass er immer wieder dieselben Fehler beging, so dass Papi oft bemerkte: LLL: Lausig Lange Leitung.
Seit Jahrzehnten, vermutlich seit der Schimanskizeit, trägt Peter drei auffällige, lächerliche, kindische und unnötige Täschchen am Gürtel, denen er sich bis zum heutigen Tag nicht entwöhnen konnte.
Irgendwann hatte Peters Unterschrift eine frappante Ähnlichkeit mit der von Papi. Eine Art der Bewunderung und Dankbarkeit?
Peter ist kein sinnlicher, genussfähiger Mensch. Ich bin überzeugt, er weiss zehn Minuten nach dem Essen nicht mehr, was er in Windeseile in sich hineingestopft und heruntergeschlungen hat. Quantität geht bei ihm stets vor Qualität. Wiederholt lud ich Peter und Sheridan in das Restaurant Chalet auf der Saalhöhe ein. Peter, der kulinarische Tiefflieger, der nichts isst, das im Wasser lebte, bestellte bei Frau Lucek, der Chefin – unsere Familie wurde immer von ihr persönlich bedient und umsorgt –, ein gut durchgebratenes Rindsfilet, worauf sie sich einen zutreffenden, aber unangebrachten, abschätzigen Kommentar nicht verkneifen konnte.
Peter ist begeistert von Kanada und fliegt jährlich mehrmals mit seiner Familie dorthin.
Meine Frau sagte mir am 29. Januar 2017: "Vom Erscheinungsbild ist mir Peter nicht sympathisch."
Peter hat zwei Kinder: Kevin, Jg. 1991. Eine von jung an kontaktfreudige, liebenswerte, offene, zugängliche Erscheinung. Automechanikerlehre. Ich wünsche ihm, dass er zwischenzeitlich seinen Diabetes Typ 1 besser im Griff hat. 2014, als ich ihn letztmals sah, war dies bedauerlicherweise nicht der Fall. Kim, Jg. 1994. Ein liebliches, sanftes Wesen, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Verkäuferinnenlehre in einer Drogerie.
Wüthrich-Boltshauser Alice und Fritz, 1921-2005 (Mamis Schwester und Schwager)
Meine Gotte Alice war eine gewinnende, warmherzige, geduldige, empathische und amüsable Person, der man nicht widerstehen konnte und von ihr sofort eingenommen wurde: Die Weltbeste! Es gibt Menschen, die tragen ihr Herz am rechten Fleck. Sie trug ihr Herz auf der Zunge. Was sie sagte, kam direkt vom Herzen. Für mich ein herzensguter, nein, der herzensbeste Mensch, den ich je kennenlernen durfte, und sie mochte mich sehr. Meine Gotte hatte mich lieber, als ich es eigentlich verdient hätte. Oder war es Mitleid von ihrer Seite? Sie kannte unsere Familienverhältnisse besser als ich, zumal Mami mit dieser Schwester den intensivsten telefonischen Kontakt pflegte und dadurch vermutlich einiges durchsickerte, was ihr Erbarmen weckte. Meine Gotte kümmerte sich bedeutend mehr um mich als ich mich um sie. Gotte ist die erste von drei Personen, wo ich mir heute – zu spät leider – Vorwürfe mache, nicht viel mehr Zeit mit ihnen verbracht zu haben. Da ich nicht getauft worden war und auch nie wurde, durfte ich mir im Alter von ca. acht Jahren die Gotte aussuchen und entschied mich für sie. Mami wählte ihre Telefonnummer, und ich bekam sofort den Hörer in die Hand. Ich war nicht etwa aufgeregt, sondern hoch erfreut, dass ich sie selbst anfragen durfte.
Mit ihrem grandiosen, ebenfalls warmherzigen, geduldigen, grundguten, Schaggi Streuli ähnlich sehenden und leider viel zu früh verstorbenen Ehemann – auch mit ihm verstand ich und jedermann sich blendend – bewirtschafteten sie einen Bauernhof. Während meine Eltern und die Geschwister ferienhalber nach Kanada, in die USA oder sonstwohin verreisten, weilte ich dort. Manchmal auch beim Götti und Tante Trudi oder bei Tante Marie und Onkel Jakob. Oder ich wurde nach Deutschland bei Günter und Elise Weiler einquartiert.
Für ihre Verhältnisse war meine Gotte ausgesprochen grosszügig und hat mich öfters mit Goldvrenelis beschenkt. Und dies, obwohl ihr Haus bescheiden ausgebaut war. Viele Jahrzehnte lang befand sich die Toilette ausserhalb des Hauses in einem Holzverschlag in Form eines Plumpsklos. Als ich erstmalig bei ihnen in den Ferien weilte, gingen wir an einem Sonntag alle zusammen nach Frauenfeld ein Concours hippique ansehen. Ich wusste nicht, was das ist, und mir wurde gesagt, Pferd und Reiter würden über mannshohe Hindernisse springen; ich konnte mir nicht vorstellen, wie Pferde mit einem ausgewachsenen Menschen auf dem Rücken darüber hüpfen konnten und war sprachlos.
Gotte und Onkel Fritz haben vier Kinder: Vreni, Fritz, Käthi und Susanne. Letztere ist die Jüngste, ein Jahr älter als ich. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und schlenderten über Wiesen und Felder. Als Teenager waren wir mal ein bisschen verliebt ineinander, zumindest ich in sie, sie war meine erste Liebe. Da mir von meinen Eltern viel verschwiegen wurde, ereignete sich folgende Peinlichkeit. Als ich im Jahre 1991 am 70. Geburtstag meiner Gotte Susanne begrüsste und mich nach ihrem Ehemann erkundigte, musste ich von ihr erfahren, dass sie schon mehrere Jahre geschieden war. Wir haben uns danach ohne irgendwelche Absichten einige Male getroffen, und ich habe sie in vegetarische Restaurants eingeladen. Sie war für mich eine stets beeindruckende, bereichernde, belesene, sehr feinfühlige Persönlichkeit.
Pengler-Boltshauser Verena und Hans, Jg. 1927 (Mamis jüngste Schwester)
Sie war die attraktivste der vier Mädchen und mit einem bedauernswerterweise völlig unerwartet, noch nicht 80jährig verstorbenen Bayern, Hans Pengler, verheiratet. Sie haben drei Kinder: Barbara, eine einfühlsame und liebenswerte Person, Jürg, ein technisch überaus begabter und erfolgreicher Unternehmer, und die im höchsten Masse attraktive Ines. Bei ihnen war ich nie in den Ferien, was wohl damit zu tun hat, dass ich einige Jahre älter war und mich vielleicht gelangweilt hätte. Dass Hans Pengler ausgerechnet am Geburtstag von Papi beerdigt wurde, fand dieser wenig amusing. In seinem Testament hat Papi verfügt, dass die vierköpfige Familie Pengler das Haus, in dem sie bereits seit Jahrzehnten wohnte, vererbt bekommt. Das Haus ist heute auf den Namen Ines Rüegg-Pengler eingetragen.
Boltshauser Hans-Heinrich, 1934-2015 (Mamis Bruder)
Er war mein absoluter männlicher Liebling und ich sein Bewunderer. Mit grosser Zuneigung schaute ich stets anerkennend zu ihm hoch. Ein famoser, strenger, gerechter, herzlicher, wirkungsvoller Mensch und von mir verehrtes Vorbild. Nie habe ich ihn fluchen oder ein böses Wort aussprechen hören. Er hatte eine von viel Humor und Spass geprägte Ausstrahlung. Er setzte Massstäbe und zeigte Grenzen auf, wie jedes Kind sie braucht. Ich kann mich erinnern, dass er mir einmal Prügel verabreicht hat, und ich bin ganz sicher, dass ich diese verdient habe. Bei Papi wusste ich dies meistens nicht. Da ich nicht getauft worden war, durfte ich mir im Alter von ca. acht Jahren den Götti selbst aussuchen und entschied mich für ihn, was ich meiner Lebtag nie bereut habe.
Wie meine Gotte hatte auch er einen Bauernbetrieb, und ich war einige Male bei ihm und seiner Familie. Morgens war frühes Aufstehen angesagt, die Kühe warteten bereits auf uns. Mein Götti und der Knecht Johann molken die Kühe, später besorgte dies eine Melkmaschine. Ich war zuständig für den Kuhmist, die frische Unterlage und die Fütterung der Kühe. Während Johann und ich mit Ross und Wagen, später mit dem Traktor, die Milch in der Käserei ablieferten, bereitete Grossmutter, und später Tante Trudi, ein reichhaltiges Frühstück vor, bestehend aus Rösti und Käse, danach frisch gebackenes, fein duftendes Brot mit Butter und ebenfalls selbst hergestellter Konfitüre. Eine täglich wiederkehrende Riesenfreude, nichts schmeckte besser.
Johann hatte neben bzw. oberhalb des Stalls eine Kammer und nahm sämtliche Mahlzeiten mit uns ein. Er hatte nur noch zwei übereinanderliegende vordere Zähne. Mein Götti foppte ihn manchmal, der obere sei zum Kartoffel schälen und der untere, um in der Nase zu bohren. Johann war ein kleiner Mann, der mit wenig Worten auskam. Er war genügsam, arbeitswillig und zuverlässig und blieb weit über sein Pensionsalter dem Betrieb erhalten. Die letzten zwei Wochen verbrachte er im Spital und ist friedlich hinübergeschlafen.
Ich muss zumindest einmal in den Wintermonaten bei meinem Götti gewesen sein, denn ich kann mich erinnern, dass es in meinem Schlafzimmer Eisblumen am Fenster hatte und es dort bedeutend kälter war als im Kuhstall. Die Holzheizung war nur für das Erdgeschoss bestimmt, der wärmste Raum war die gemütliche, einladende Stube, welche jedoch nur am Sonntag mit Besuch betreten werden durfte. Abends nach dem Nachtessen blieb man zusammen am grossen Tisch und auf der Eckbank sitzen, und ich bekam viel Interessantes und Lustiges von meinem Götti zu hören. Er hatte ein ansteckendes Lachen, das sich auf die ganze Umgebung übertrug. So gegen 21 Uhr gingen er und ich nochmals kurz in den Stall, um zu schauen, ob alles seine Richtigkeit habe – und dann ab ins Bett. Dieses war für mich ungewöhnlich hoch, die Decke war riesig und spendete nach wenigen Sekunden eine wohlige Wärme. Ich habe immer prächtig geschlafen. Bei der Geburt einiger Kälber durfte ich zugegen sein. Per Strick wurde das Jungtier an die Luft befördert und die Mutterkuh vom Geburtsprozedere etwas entlastet. Danach gab's Brot mit Salz – für die Kuh.
Götti ist die zweite von drei Personen, wo ich mir heute Vorwürfe mache, nicht mehr Zeit mit ihnen verbracht zu haben. Es ärgert mich fürchterlich, dass ich diesen für mich so wichtigen Mann so sehr vernachlässigt habe. Eine einfache Person mit enormer menschlicher Intelligenz und Sozialkompetenz. In den letzten zwei Jahren seines Lebens sahen wir uns viermal, letztmals 15 Tage vor seinem Tod, als er mit Tante Trudi zu Besuch bei uns war. Er litt während der letzten 10 Jahre an Parkinson.
Weiler Günter, Jg. 1929 (ehemaliger Schulrektor, Freund des Hauses)
Günter und seine Frau Elise (gest. 2009) waren seit 1951 die einzigen Freunde meiner Eltern und hatten regen telefonischen und persönlichen Kontakt, wobei die Reiserei von Deutschland stets ihnen zugemutet wurde.
Am 22. November 2015 waren Bigi und ich bei ihm und seiner zweiten Frau Hanne zu Besuch. Dabei erzählte ich ihnen, dass Ernst – der zweitälteste Bruder meines Vaters – 1966 den Freitod gewählt hatte. Dies wusste Günter nicht. Dass Ernst in den letzten Jahren an Depressionen gelitten hatte, war ihm bekannt gewesen.
Im Oktober 2016 schrieb ich Günter, dass die Ärzte Mami abgeraten hatten, nach zwei Kaiserschnitten weitere Kinder auf die Welt zu bringen. Er schrieb mir zurück: "Dass Lisbeth und Peter durch einen Kaiserschnitt zur Welt kamen, wusste ich bis jetzt nicht." Also darf davon ausgegangen werden, dass er auch nie erfahren hat, was der Grund war, dass ich in diese Familie aufgenommen wurde. Dass für Lisbeth ein Schwesterchen nach Hause geholt, aber wieder zurückgegeben wurde, war ihm auch unbekannt.
Als ich Günter nach Interna unserer Familie anfragte, antwortete er mir: "Interna wurden im Hause Pfister auch so gehalten. Da waren wir auch aussen vor."
Aufgrund dieser Beispiele folgt die Erkenntnis: Eine langjährige Freundschaft muss keine tiefgehende, sondern kann auch eine sonderbar oberflächliche Freundschaft gewesen sein.
Papi hat Günter ein Darlehen von 50'000 DM mit Vorzugszins gegeben, damit er sein geplantes Haus auf Anraten von Papi etwas grösser bauen konnte.
Günter ist die dritte von drei Personen, bei der ich mir heute Vorwürfe mache, nicht viel mehr Zeit mit ihm und seiner ersten Frau verbracht zu haben. Sie war eine Frohnatur, hatte ein ansteckendes Lachen wie Liselotte Pulver und war ein tatsächliches Ebenbild von ihr.
Günter hat ein Kind, Monika, Jg. 1952, ist verheiratet und hat ein Kind.
Burkhardt Edy, 1916-1997 (CEO von Möbel Pfister AG)
Er war während 20 Jahren, von 1963 bis 1983, Unternehmensleiter, Verwaltungsratspräsident und Delegierter des Verwaltungsrates in Personalunion der Möbel Pfister AG. Er war der Einzige, der in unserem Haus rauchen durfte. Papi hätte es dieser Respektsperson nicht verbieten wollen. Onkel Edy, wie wir Kinder ihn nennen durften, obwohl er nicht mit uns verwandt war, zündete seine Zigaretten nie mit einem schmucken goldenen Feuerzeug, sondern stets mit Streichhölzern an, machte eine ausholende, kreisrunde und elegante Armbewegung vor seinem Gesicht und über dem Kopf, und die Flamme erlosch. Er rauchte viel und trank nicht wenig. Ich habe ihn stets sehr gemocht. Weltmännisch, visionär, weitsichtig, strategisch, ein überzeugungsstarker Unternehmer, Motivator, Realisator, umgänglich, lustig, unterhaltsam. Ich kenne niemanden, der ihn nicht mochte, obwohl es solche Menschen sicher auch gegeben haben mag. Edy Burkhardt war eine gewinnende Persönlichkeit, ein grossartiger Mensch. Er war stets gutgelaunt, lachte gern mit Niveau, ein totaler Aufsteller, stets Zuversicht und Optimismus ausstrahlend. Der beste Mann am richtigen Ort zu seiner Zeit. Ein Lebemann und eingefleischter Junggeselle mit wechselnden Damenbekanntschaften. Er lebte für "seinen" Betrieb und wusste zu leben. Für ihn stand an erster Stelle die Firma, an zweiter die Firma, an dritter die Feen. Onkel Edy war gütig und grosszügig. Ein Gentleman und bis ins hohe Alter ein rundum erfreuliches Gesamtpaket. Als Lisbeth heiratete, machte er Mami tröstend ein teures Schmuckgeschenk, das sie refüsierte und ihn damit sicherlich beleidigte.
Onkel Edy war der letzte Firmen-Vertreter in der Zunftgesellschaft Zur Constaffel und im legendären Grasshoppers Donnerstags-Club.
Cipolat Toni, Jg. 1935 (CEO von Möbel Pfister AG 1983-1995)
Dieser Mann hat auf mich einen immensen Eindruck gemacht. Ich wäre glücklich, auch nur einen Bruchteil seiner Fähigkeiten zu besitzen. Edy Burkhardt hat seine Sache als Geschäftsleiter der Möbel Pfister AG sehr gut gemacht, aber geradezu ein Überflieger war der talentierte, clevere, ehrgeizige, kreative, ambitionierte Herr Cipolat. Erst 23jährig, kam er im Jahre 1958 von der Swiss Re. Aus dem einstigen Kalkulator wurde nach 25jähriger Betriebszugehörigkeit der neue Leiter und Nachfolger von Onkel Edy.
Das Beste, was Möbel Pfister nach 101 Jahren passieren konnte. Der mit grossem Abstand fähigste und herausragendste Mann am richtigen Ort zu seiner Zeit als Unternehmenslenker. Herr Cipolat war für Möbel Pfister ein absoluter Glücksfall. Er hatte eine derart grosse, ansteckende, mitreissende Begeisterungsfähigkeit, Motivationsfähigkeit und Ausdruckskraft, der man sich nicht entziehen konnte. Wenn Herr Cipolat sprach, hörte keiner weg, man hing an seinen Lippen, war gebannt, liess sich anstecken, war hin und weg. Er hatte einzigartige Einfälle, durchdachte, umsetzbare Ideen und erzielte in den goldenen 1980er und 1990er Jahren Umsätze und Gewinne, wie nie jemand vor und nach ihm.
Herr Cipolat hat nicht nur die Firma Pfister, sondern die ganze Branche verdienstvoll auf Vordermann gebracht. Legendär sind sein entwaffnender Charme, seine Augen, sein Lächeln, seine Jugendlichkeit – heute schwärmt man für George Clooney, damals für ihn. Visionen - auch gewagte - von Herrn Cipolat wurden von den Gremien während vieler Jahre rasch verabschiedet, weil er glaubhaft überzeugen und man ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Er war eine unangefochtene Instanz. Herr Cipolat hatte jederzeit die Achtung der Mitmenschen – und nicht nur gelegentlich ihre Bewunderung. Ein König der geglückten Kommunikation und profunder Kenner der Möbelbranche, eine Koryphäe. Ein Selfmademan und Virtuose; er musste sich beweisen, wurde nicht protegiert. Unglaublich, was der fleissige Herr Cipolat in seinem Leben nebst Möbel Pfister alles erreicht hat.
Das Wort UNMÖGLICH scheint es in seinem Wortschatz fast nicht gegeben zu haben. Ohne Herrn Cipolat wäre Möbel Pfister nicht noch immer der Primus unter den Einrichtungsfachgeschäften in der Schweiz. So aber ist Möbel Pfister noch heute Markt- und Ideenleader und wird mannigfach kopiert. Wollte man die Leistungen von Herrn Cipolat auf einen Punkt bringen, müsste man neue Worte erfinden. Ein grandioser Mensch, der Hunderte Ideen und Innovationen in die Firma einbrachte und den etwas verstaubten Klassenersten in andere Sphären katapultierte. Ich habe nie wieder jemand so brillant formulieren und mit solcher Kraft des Ausdrucks, der Begeisterung, Überzeugung und Motivation reden hören. Was von 1970 bis 1995 während 25 Jahren umgesetzt wurde, fusste fast ausschliesslich auf seinen Vorschlägen. Papi bewunderte seine unzähligen Stärken und lobte ihn innerhalb der Familie des öftern – und nicht nur dort – sehr detailliert. Um so mehr war ich überrascht, als Herr Cipolat in seinem Mail erwähnte, mein Vater hätte ihm gegenüber die Ansicht geäussert, er (Toni Cipolat) hätte es auch nicht gebracht. Dem muss aufs Schärfste widersprochen werden! Papi vertrug sich mit dem Erfolgsmenschen nur schlecht. Missgunst scheint dabei eine grosse Rolle gespielt zu haben. Ob Papi mit dem "auch" sich selbst meinte?
Im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich auch nach Papis "Rausschmiss" Kontakt zu Verwaltungsräten und Direktoren von Möbel Pfister – und alle lobten Herrn Cipolat, wenn auch nicht alle gleich und nicht alle zum selben Thema.
Müller-Odersky Elisabeth, Jg. ca. 1952 (Freundin meines Bruders)
Elisabeth habe ich vor mehr als 50 Jahren kennengelernt. Sie war für kurze Zeit die erste Freundin meines Bruders und arbeitet seit vielen Jahren als Physiotherapeutin. Mathias Müller, meines Bruders bester Freund, hat sie ihm ausgespannt, geheiratet und zwei Kinder mit ihr gezeugt, später Scheidung. Während Peters eigene Scheidung lief oder bereits zuvor (?) haben sich die beiden wieder gefunden, doch wie sang einst Telly Savalas: "Some broken hearts never mend". Peter konnte die vor Jahrzehnten erlittene Schmach nie ganz überwinden. Geleimte Krüge sind eben keine neuen Krüge. Die Beziehung zwischen den beiden soll seit Jahren nicht zum Besten stehen, man bildet eher eine Zweckgemeinschaft. Die beiden Praxen wurden mittlerweile zusammengelegt.
Elisabeth Müller-Odersky schrieb mir: "(…) dass ich mal gehört habe, dass die Erbfragen zwischen dir und Hans Pfister gelöst und entschieden wurden. Das heisst, dass ihr beide das anscheinend geklärt habt". Hier muss sie (und sicher auch Peters Kinder) von meinem Bruder absichtlich und wider besseres Wissen angelogen worden sein - was blieb ihm auch anderes übrig -, denn es wurde nichts "gelöst und entschieden". In der Schenkungsvereinbarung bezüglich Übernahme der Alimente durch Papi steht zu lesen: "Weitere Vorsorgemassnahmen, die Herr Pfister sen. zu gleichen Teilen für alle drei Kinder vorgekehrt hat…” Danach floss zu meinen Gunsten kein Geld mehr.